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Auszüge aus Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur Judenfrage der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 13, 75-78:


„Die Judenemanzipation war kein Kind der reinen Theorie, sondern ein Produkt des sich seit dem späten 18. Jahrhundert beschleunigenden sozialen Wandels von der alten zur neuen Gesellschaft. Aber sie kam dennoch nicht unvermerkt, gleichsam von selber, sondern an ihrem Beginn stand ein klares Problembewußtsein. Die Emanzipation wurde als Aufgabe formuliert, mit einer ganz bestimmten Zielvorstellung, begründet auf eine kritische Situationsanalyse der Gegenwart. Die Diskussion begann im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution, wobei jedoch bemerkenswerterweise die bereits erfolgte Aufhebung konfessioneller Schranken in Nordamerika keine Rolle spielte. 1781 erschien in Berlin das epochemachende Buch von Christian Wilhelm Dohm "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden", das eine ungewöhnlich breite und intensive literarische Diskussion entfesselte. 1787 stellte die Akademie in Metz die Preisfrage: "Gibt es Mittel, die Juden glücklicher und nützlicher in Frankreich zu machen?", und diese Frage fand, nicht zuletzt unter dem Einfluß der deutschen Diskussion, in Frankreich ebenfalls ein lebhaftes Echo. Aber es waren nicht nur die Publizisten und Gelehrten, die solche Fragen erörterten, auch die Regierungen griffen sie auf: Joseph II. ging in Österreich voran – seine Verordnungen vom 2. Januar 1782 blieben vorerst die einzigenpraktischen Schritte -, bald folgten, von seinem Vorbild angeregt, andere Fürsten, wie vor allem in Baden zu beobachten ist. In Preußen wartete man zunächst ab, da von Friedrich dem Großen in dieser Sache nichts zu erhoffen war; aber schon 1787 begann dann eine Regierungskommission an einem Gesetzentwurf über die künftige Stellung der Juden in Preußen zu arbeiten. Auch in Frankreich schließlich war noch vor der Revolution vom König eine Kommission unter dem Vorsitz Malesherbes' eingesetzt worden, um Reformmaßnahmen zu beraten. Die Lösung der 'Judenfrage' stand von nun an auf der Tagesordnung der Politik der europäischen Staaten.

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Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die These, daß erst mit dem Beginn des bewußt vorangetriebenen Transformationsprozesses von der ständisch-feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert eine 'Judenfrage' entstanden ist.
Jahrhundertelang waren die Juden unterdrückt und isoliert, gehaßt und verachtet worden. Der christlichen Bevölkerung galten sie in der Regel als ein von Gott verdammtes, sittlich verkommenes Volk, dessen wucherische Geschäftspraktiken eine Plage für jedes Land bedeuteten; die Fürsten benutzten sie als Objekt und Instrument ihrer Finanz- und Ausbeutungspolitik. Die Beziehungen zwischen den Juden und ihrer nichtjüdischen Umwelt waren seit dem Mittelalter ganz auf den ökonomischen Bereich eingeschränkt. Da den Juden das zünftige Handwerk verschlossen und der Erwerb von Grund und Boden untersagt waren, widmeten sie sich fast ausschließlich dem Trödel- und Hausierhandel und dazu dem Geld- und Kreditgeschäft. In diesem Sektor übernahmen sie Funktionen, die innerhalb der ständisch-feudalen Gesellschaft von kaum jemand anderem wahrgenommen wurden. Ihr Minderheitscharakter war dadurch zugleich religiös und ökonomisch geprägt: Ein Jude war nicht nur der einzige Nichtchrist in einer christlichen Gesellschaft, sondern auch der Prototyp des Trödlers und Geldhändlers in einer agrarisch-handwerklichen, statischen und nicht auf Gewinn ausgerichteten Wirtschaft. Ihre rechtliche Stellung war höchst ungesichert: Sie waren gegen hohe Abgaben temporär 'geduldete' Untertanen, standen außerhalb der ständischen Gliederung der Gesellschaft und lebten in sozialer und kultureller Isolierung unter besonderen 'Judenrechten'. Die 'Judenpolitik' der Fürsten und Stände beschränkte sich auf Zulassung, finanzielle Ausbeutung und Ausweisung der Juden; Angriffe auf Leib und Leben der Juden waren selten geworden. Eine prinzipielle Änderung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen wurde weder von den Juden erwartet, noch von der christlichen Gesellschaft in Betracht gezogen. Die soziale Existenz der jüdischen Minderheit galt der Mehrheit als 'lästig' und zugleich unveränderlich: man konnte die Juden schlimmstenfalls über die Landesgrenzen abschieben, man konnte sie aber nicht ändern. Die Stellung der Juden als eine aus der ständischen Gesellschaft 'ausgegrenzte' religiöse und wirtschaftliche Minderheit schien ein für alle Mal fixiert, dem geschichtlichen Wandel entzogen. Es gab 'Judenordnungen' und 'Judenpolitik', aber es konnte unter diesen Voraussetzungen keine 'Judenfrage' geben. Die Juden bildeten kein Problem, das einer grundsätzlichen Lösung zu bedürfen und offen zu sein schien.
Das änderte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert. Im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution gab es plötzlich eine 'Judenfrage', die ihren Ausdruck fand in einer 1781 von Dohm in Berlin ausgelösten, breiten literarischen Diskussion über die "bürgerliche Verbesserung der Juden", in Akademiepreisfragen (Metz 1787), in staatlichen Reformkommissionen (Baden, Preußen, Frankreich, Toscana u.a.) und in ersten Reformedikten (Österreich 1782). Die überlieferte jüdische Existenz erschien nun mit einem Mal problematisch, eine tiefgreifende Änderung im Verhältnis der Juden zur christlichen Gesellschaft wurde für nötig und zugleich auch für möglich erklärt. Der Anstoß dazu ging nicht von den Juden aus, auch nicht von einem plötzlichen, unerklärbaren Philosemitismus. Entwicklungen innerhalb des Judentums waren allerdings insofern von Bedeutung, als sich an sie bestimmte Erwartungen derjenigen knüpften, die nun eine 'Judenfrage' aufwarfen. Dabei handelt es sich vor allem um zwei Vorgänge: einmal die Herausbildung einer jüdischen Finanzaristokratie, einer schmalen, ökonomisch einflußreichen Schicht seit dem 17. Jahrhundert, die die potentielle wirtschaftliche Bedeutung der Juden repräsentierte; zum anderen die Bildung einer ebenfalls sehr schmalen kulturellen Oberschicht, die die geistige Isolierung des Judentums durchbrach und aktiven Anteil am aufklärerischen Bildungsprozeß nahm. In beiden Fällen handelte es sich zunächst nur um Randerscheinungen, die nichts daran änderten, daß die Masse der Juden weiterhin arm und ungebildet war, sie ließen aber nun auch im aschkenasischen Judentum Mitteleuropas Entwicklungsmöglichkeiten sichtbar werden, die bis dahin den sephardischen Juden in Bordeaux, Amsterdam und London vorbehalten schienen, deren wohlhabende und kultivierte Oberschicht zu den Trägern und Prototypen des Handelskapitalismus der vorindustriellen Zeit zählte und auch ohne rechtliche Gleichstellung längst weitgehend assimiliert und integriert worden war.
Ursache und Triebkraft der um 1780 einsetzenden Versuche, die Verhältnisse der Juden grundlegend neu zu ordnen, war der sich beschleunigende Transformationsprozeß von der feudalen Ständegesellschaft zur bürgerlichen Klassengesellschaft, war die Hinwendung zu einer bewußten Politik des gesellschaftlichen Wandels. Unter den Vorzeichen des 'aufgeklärten Absolutismus' wurde in zahlreichen Staaten eine aktive Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik entwickelt, die sich am Merkantilismus und teilweise auch schon an der Freihandelslehre orientierte. Ihr Ziel war, den Theoretikern und Praktikern mehr oder weniger deutlich bewußt, die Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft ohne die Schranken von Ständen, Korporationen und Kirchen, gestützt auf die Freiheit des Individuums und des Eigentums, getragen vom ökonomischen Fortschritt und der freien Konkurrenz der gesellschaftlichen Kräfte. Es entsprach dabei den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Mitteleuropas, daß als Motor und Regulator des Transformationsprozesses der Staat – als bürokratischer Wohlfahrtsstaat – angesehen wurde. Nicht ein selbstbewußtes Handels- oder Finanzbürgertum, sondern ein aufgeklärt-liberales Beamtentum war Initiator und für lange Zeit Träger der bürgerlichen Emanzipationsbewegung – was der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Mitteleuropa das spezifische Gepräge gab.
Im Rahmen einer solchen Politik war es unvermeidlich, auch den Platz der Juden neu zu bestimmen: Die 'Judenfrage' stellte sich als die Frage nach der Stellung und Funktion der Juden in der zu realisierenden bürgerlichen Gesellschaft. Populationistische Theorien und ausgeprägt antikorporative Tendenzen der Reformer bauten ebenso wie etwa die beginnende Kapitalisierung der Landwirtschaft in Ost- und Norddeutschland die Widerstände gegen eine Einbeziehung der Juden in die Gesellschaft ab und lenkten den Blick auf die mögliche 'Nutzbarmachung' der Juden, die Einbeziehung ihrer potentiellen Handels- und Finanzkapazität in die neue Wirtschaftspolitik. Auch den Juden wurde nun eine von Natur aus gleiche Fähigkeit wie allen anderen Menschen zuerkannt, nützliche Glieder der Gesellschaft zu sein. Ihre gegenwärtige Existenz erschien nicht länger als Ausdruck einer unveränderlichen Natur, sondern als das Ergebnis ihrer Geschichte, als das Resultat von Haß, Verfolgung, Unterdrückung und Isolierung. Erst die verfehlte 'Judenpolitik' der Vergangenheit hatte, so argumentierte man nun, die Juden geschaffen, die zum Gegenstand des Hasses und der Verachtung ihrer christlichen Umwelt geworden waren; eine Änderung dieser Politik, eine Veränderung der rechtlichen und sozialen Bedingungen jüdischer Existenz, würde daher auch die Juden ändern. Ohne Ausnahmegesetze, die ihre 'Ausgrenzung' aus der christlichen Gesellschaft fixierten, würden auch sie als Individuen in die allgemeine Bürgergesellschaft aufgehoben werden.“

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