[ Start | Politik | Verfassung | Die Reichsstände | Die sogenannten Stände des Reiches ]
   
  zurück
Aus: Armin Owzar, Wider den „patriarchalischen Schlendrian“ – Napoleonische Verfassungspolitik in Westfalen, in: „Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians“ ..., S. 305:


„Neben dem Staatsrat, der gutachterliche, beratende und vermittelnde Funktionen ausübte, kam es zur Einrichtung einer Volksvertretung, den sogenannten Ständen des Reichs. Die meisten Historiker haben sich schwer getan, diese Kammer als Parlament zu bezeichnen. Mit einem Repräsentationsorgan wie dem Deutschen Bundestag oder der Französischen Nationalversammlung hatten die mit Artikel 29 bis 33 eingerichteten Reichsstände auch tatsächlich nur wenig gemein. Allerdings lehrt die europäische Verfassungsgeschichte, daß kaum eine ältere Konstitution unseren heutigen Maßstäben gerecht wird. Man denke nur an das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle erwachsenen Männer und Frauen, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Regel werden sollte.

In Westphalen verdankten die hundert Abgeordneten ihr Mandat weder direkten noch gleichen noch geheimen Wahlen. Und das passive Wahlrecht blieb einem vergleichsweise kleinen Kreis westphälischer Untertanen vorbehalten: zumeist handelte es sich um Angehörige der bürgerlich-aristokratischen Notablenschicht wie Grundeigentümer, Kaufleute und Gelehrte. Doch da bereits minimaler Grundbesitz, ein Haus, ja sogar ein Garten, zur Wählbarkeit qualifizierten, waren auch einfache Bürger und Bauern in der Kammer vertreten. Delegierter wurde man – und das war ein Novum – nicht länger wegen seiner ständischen Herkunft, sondern aufgrund bestimmter Leistungsmerkmale, wie Besitz und Bildung. Nicht minder neu war der Repräsentationsanspruch dieser Abgeordneten. Sie vertraten weder sich selbst noch einen Stand noch eine Korporation. Sie vertraten die ganze ‚westphälische Nazion‘. Damit wurden sie zum Prototyp des modernen Volksvertreters.

Zugegeben: die Kompetenzen waren gering. Die Mitwirkung der Parlamentarier an der Legislative beschränkte sich darauf, einige vom Staatsrat entworfene Gesetze zu diskutieren und darüber – nach erneuter Vorlage – abzustimmen. Daß sich das Mitspracherecht nur auf wenige Bereiche erstreckte, namentlich auf den Ausgabenetat, die Steuergesetzgebung sowie kriminal- und zivilrechtliche Angelegenheiten, war kein Spezifikum der westphälischen Verfassung. Das Steuerbewilligungsrecht und die Verabschiedung des Staatshaushaltes, allerorts bildeten sie den Kern parlamentarischer Kompetenzen. Denn wollte der infolge wachsender Aufgaben hoch verschuldete Staat weiterhin Kredit bei seinen Bürgern genießen, so war er geradezu gezwungen, diese an der finanziellen Entscheidungsfindung teilhaben zu lassen. Auch im Königreich Westphalen hätte sich daher ein Prozeß vollziehen können, der in der europäischen Verfassungsgeschichte die Regel bildete: daß die Gewaltenteilung ‚im Laufe der Zeit über die Zustimmung zur Besteuerung und zu den Staatsausgaben mehr und mehr auf den Bereich der Exekutive übergreifen und schließlich – im sogenannten parlamentarischen Regierungssystem – zur Bestimmung der personellen Zusammensetzung der Regierung führen‘ konnte.

Jedenfalls handelte es sich bei den Reichsständen keineswegs um ein reines Akklamationsorgan. Vier von insgesamt fünfzehn überlieferten Abstimmungsergebnissen fielen für die Regierung recht ungünstig aus. Zweimal verweigerte die Mehrheit der Gesetzesvorlage sogar ihre Zustimmung, ein damals, auch für französische Verhältnisse, spektakuläres Ereignis. Freilich hatten die Abgeordneten damit die Grenzen ihres Einflusses überschritten: denn die zweite, 1810 abgehaltene Ständeversammlung sollte auch die letzte sein. Der König – offensichtlich fürchtete er das Parlament – pflegte fortan eigenmächtig, mittels Dekreten zu regieren. Die Verfassung verlor endgültig ihre (ohnehin nur schwach ausgebildete) Funktion, die Herrschaft des Königs zu begrenzen.

Handelte es sich dabei um einen Verfassungsbruch? Der Verfassungsurkunde selbst ist auf diese Frage keine eindeutige Antwort zu entnehmen. Zwar kam dem König das Recht zu, die Versammlung einzuberufen, zu vertagen und aufzulösen. Allerdings ließen Verfassung und Gesetzgebung keinen Zweifel daran, daß ursprünglich jährliche Sitzungsperioden vorgesehen waren. Das berechtigt zu der Annahme, der König hätte langfristig das Parlament wieder in sein Recht setzen müssen. Ansonsten hätte er sich um seine letzte Glaubwürdigkeit und damit auch um die für seine Herrschaft unverzichtbare Loyalität nicht nur der Notablen, sondern auch der übrigen Untertanen gebracht. Denn durch das konstitutionell verbürgte Zugeständnis, die Untertanen vermittelt an der Gesetzgebung zu beteiligen, hatte der König einen Großteil der reformorientierten Funktionseliten für sich gewinnen können.“

Zum Seitenanfang 
 
Der LWL -  Freiherr-vom-Stein-Platz 1 -  48133 Münster -  Kontakt -  Impressum