Estnische Glaskunst blickt auf eine eigenständige Entwicklung zurück, die in Westeuropa noch wenig bekannt ist: Die Abgeschiedenheit des Landes führte zu einer autonomen Formensprache der künstlerischen Glasobjekte, die sich unabhängig von den anderen baltischen Staaten entwickelte. Diese Glaskunst ist von großer Klarheit und zeugt einem intensiven Gespür für die Materialqualitäten des Werkstoffes. Sie erfüllt geradezu idealtypisch die Forderungen der Bewegung des Neuen Glases, nicht dem brillanten Reiz des Werkstoffes zu erliegen; dennoch –oder gerade aus diesem Grund – gelingt es den KünstlerInnen, Glasobjekte von hohem ästhetischem Reiz zu schaffen.
Blüten wie aus Sand entsprossen
Rauhe Blütengebilde, die wie aus Sand entsprossen scheinen, daneben elegant geschwungene Plastiken aus optischem Glas - die Glaskunst der baltischen Republik Estland ist vielfältig.
Gezeigt werden Glasobjekte und Installationen von 20 zeitgenössischen Künstlern des Landes. Einigevon ihnen wie Maare Saare oder Kristiina Uslar haben bereits internationales Renommee erworben. Aber auch junge, noch unbekannte Künstler, die am Beginn ihrer Karriere stehen, wurden in die Auswahl aufgenommen. Auf diese Weise entstand ein repräsentativer Überblick über das aktuelle Kunstschaffen mit dem Material Glas in Estland.
"An der estnischen Glaskunst fällt vor allem die gestalterische Präzision auf. Große Gesten oder Attitüden sind ihr fremd, eher erscheint sie archaisch und klar umrissen in Form und Konzeption", erläutert Dr. Katrin Holthaus vom LWL-Industriemuseum. Bei der Gestaltung dominierten jahr-zehntelang die sogenannten "kalten Techniken" Gravur und Schliff. Das Glas selbst wurde impor-tiert und in estnischen Glasfabriken lediglich bearbeitet.
Hintergrund
Die Möglichkeiten, künstlerisch mit Glas zu arbeiten, waren bis zum Ende der Sowjetzeit 1991 stark beschränkt: Die Gestaltung unterlag inhaltlichen Restriktionen, und viele Techniken konnten nicht eingesetzt werden, weil Öfen und Material fehlten. "Wollten Künstler ihre Entwürfe realisieren oder selbst Glas machen, mussten sie die Hilfe einer ukrainischen Industrieglashütte in Anspruch nehmen", erklärt die Kunsthistorikerin. Nach 1991 bauten viele Künstler dann Studioöfen, um selbst Glas zu machen, so dass inzwischen "heiße Techniken" überwiegen. Pionierinnen auf dem Gebiet sind Viivi-Ann Keerdo und Kai Koppel, die ihren Ofen zunächst in einem privaten Atelier im Verborgenen betrieben hatten. An diese Tradition knüpfte in den 1990er Jahren Kati Kerstna an, die einen Tonofen zur Glasherstellung rekonstruierte. Arbeiten dieser drei Künstlerinnen sind in Gernheim ausgestellt.
In der Ausstellung sind vertreten: Merle Bukovec, Liisi Junolainen, Eeva Käsper, Viivi-Ann Keerdo, Kati Kerstna, Kai Kiudsoo-Värv, Eve Koha, Kai Koppel, Ivo Lill, Toomas Mäelt, Kairi Orgusaar, Rait Prääts, Toomas Riisalu, Peeter Rudaš, Mare Saare, Kai Saarepuu, Maret Sarapu, Tiina Sarapu, Anneli Paloveer, Kristiina Uslar
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