Zu allen Zeiten haben Erwachsene über „die Jugend von heute“ missbilligend den Kopf geschüttelt. Ob es die langen Haare waren, außergewöhnliche Kleidung, die schreckliche Musik oder die inneren Einstellungen – Jugendkulturen waren schon immer eine Provokation für den Rest der Gesellschaft.
Die Ausstellung des LWL-Industriemuseums in Bochum widmet sich erstmals umfassend dem Phänomen der jugendlichen Subkulturen im Ruhrgebiet. Unter dem Titel „Einfach anders!“ beleuchtet die Zeche Hannover das Phänomen seit dem frühen 20. Jahrhundert - von der Wandervogelbewegung über den Edelweißpiraten, der Swingjugend, den Halbstarken und Punks bis hin zu aktuellen Ausformungen wie Graffiti-Sprayern und Steampunks.
Fotos, Interviews mit Zeitzeugen und über 200 Exponate wie typische Kleidungsstücke und Accessoires, Musikinstrumente, Plattencover oder Filmplakate machen die Jugendkulturen anschaulich.
Auf unserer Facebook-Seite gibt es einige Fotos von der Eröffnung am 4. April.
Wandervögel, Edelweißpiraten und Halbstarke
Die erste Jugendbewegung meldete sich in Deutschland um 1900 mit einem Protest gegen eingefahrenen Wege, Erneuerungswillen und einer Besinnung auf die Natur zu Wort. Die literarische Moderne, der Jugendstil in der bildenden Kunst und die Wandervogelbewegung machten die Jugendbewegung deutlich sichtbar. Im Ruhrgebiet gründeten sich kurz nach der Jahrhundertwende die ersten Wandervogelvereine und Jugendbünde, die ihren Weg „aus grauer Städte Mauern“ suchten.
Während der Gleichschaltung von Kultur und Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus wurden viele unangepasste Jugendliche ausgegrenzt und verfolgt. Die jazzbegeisterten Swing-Kids begaben sich in den Untergrund, aus Nonkonformisten wurden teilweise auch aktive jugendliche Widerständler wie beispielsweise die Edelweißpiraten an Rhein und Ruhr.
Seit den 1950er Jahren spielt die Musik-, Mode- und Medienindustrie eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Jugendkulturen. Während des Wiederaufbaus und der Wirtschaftswunderzeit profitierten die Jugendlichem im Revier als erste von steigenden Löhnen und mehr Freizeit. Mopeds und Motorräder machten Halbstarke und Rocker mobil, Arbeitslohn und Taschengeld brachten Radiogeräte, Plattenspieler oder Gitarren ins Haus. Mit der Verbreitung des Rock ’n Roll gerieten die Jugendlichen im Revier außer Rand und Band. Prügeleien und Verwüstungen im Umfeld von Konzerten oder Filmvorführungen waren die Folge. Sie zeigten die große Kluft zwischen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration.
Ende der 1960er Jahre war das Ruhrgebiet eher mit der Kohlekrise und dem Strukturwandel beschäftigt als mit Studentenprotesten und Revolution. Die 1965 und 1969 in Betrieb gegangenen Universitäten in Bochum und Dortmund konnten als junge Pendler-Unis keine Studentenbewegung wie in Berlin oder Frankfurt entwickeln. Stärker war hingegen die Lehrlingsbewegung im Ruhrgebiet, die von in der Region verankerten Tradition der Mitbestimmung, einer selbstbewussten Arbeiterschaft und starken Gewerkschaften profitierte.
In den 1970er Jahren sorgten der fortschreitende Niedergang der Industrie sowie der einsetzende Strukturwandel hin zu Bildung und Kultur für ein besonderes Milieu, das neue kreative Potentiale eröffnete und einige Subkulturen besonders förderte. Die Musik des Heavy Metal erzeugte in der von Eisen und Stahl geprägten Region eine besondere Resonanz, so dass sich hier eine Szene entwickelte, die bis heute als eine der größten und dichtesten in Europa gilt und Weltstars ihres Genres hervorgebracht hat.
Hausbesetzer und Punks
„Seit den 1980er Jahren ist eine zunehmende Pluralisierung der Jugendkulturen festzustellen. Nicht mehr ein oder zwei Strömungen kennzeichnen die Kultur einer Jugendgeneration, sondern eine immer größeren Vielzahl“, so Museumsleiter Dietmar Osses.
Die Subkulturen der Hausbesetzer und Punks erhielten im Revier besondere Ausprägungen. Der Strukturwandel brachte mit Spekulationen, Abrissplänen und Mangel an preiswertem Wohnraum für die ins Ruhrgebiet strömenden Studierenden eine angespannte Lage. Hausbesetzungen und Auseinandersetzungen waren die Folge. Das Bochumer Heusnerviertel oder der Dortmunder Heidehof wurden Symbole für Widerstand und Aufbruchwillen.
In einer Region, in der man ans Zupacken gewöhnt war, fiel das Do-it-yourself-Prinzip von Hausbesetzern und Punks auf besonders fruchtbaren Boden. So bot das von Leerständen und Industriebrachen geprägte Revier sowohl für eine Ästhetik des Untergangs wie auch für die Kreativität einer neuen Kultur von unten besondere Potenziale und Räume. Die sich im Umfeld entwickelnden soziokulturellen Zentren sorgten für ein dichtes Netz an Freiräumen, das jugendliche Subkulturen bis heute beflügelt.
Graffity und Techno
In den 1980er und 1990er Jahren entwickelte sich die Stadt Dortmund zu einer Hauptstadt der Graffiti-Kultur und der Techno-Szene. Die Kombination von dichten Verkehrsnetzen und zahlreichen Betonflächen begünstigte die Ausbreitung der illegalen Sprühkunst. „Keine andere Stadt in Westdeutschland war so geprägt von Graffiti wie die Westfalenmetropole“, weiß Katarzyna Nogueira.
In den 1990er Jahren Jahren schuf sich die Techno-Szene des Reviers mit dem „Mayday“ in Dortmund ihr lokales Großereignis. In kleinen Szene-Clubs konnten die Fans der elektronischen Musik ihren Rausch in der Musik finden. Die aus Berlin übernommene Love-Parade kam als weiteres Mega-Event in die Region, das mit der tragischen Katastrophe von Duisburg 2010 jedoch ein jähes Ende fand.
Aus der Vielzahl der aktuellen Retro-Bewegungen ragt im Ruhrgebiet heute die Neo-Rockabilly-Szene hervor. Die Rückbesinnung auf die Subkultur der Wirtschaftswunderjahre scheint im Revier besonders starken Anklang zu finden.
Steampunk
Neue Potenziale aus den Zukunftsvisionen der Vergangenheit schöpft die Subkultur der Steampunks. Das von den Ideen und Relikten der Industrialisierung geprägte Ruhrgebiet bildet eine ideale Umgebung für die von Erfindergeist und alternativem Fortschrittsoptimismus geprägte Szene.
Zudem formiert sich gegenwärtig im Ruhrgebiet eine neue jugendliche Szene zwischen Subkultur und Hochkultur, die Elemente von Akrobatik, Hip-Hop, Streetdance und Tanztheater verbindet. Die Herkunft ihrer Akteure ist dabei so vielfältig wie die von Zuwanderung geprägte Gesellschaft des Ruhrgebiets. Die Werte der Szene – Leistungsbereitschaft, Respekt und Zusammenhalt – knüpfen dabei an Traditionen an, die seit Generationen immer wieder das Arbeiten und Zusammenleben im Revier geprägt haben. Mit der Pluralität der jugendlichen Subkulturen und der Diversität ihrer Akteure zeigt das Ruhrgebiet heute in doppeltem Sinn eine besondere kulturelle Vielfalt.
"Einfach anders! ist eine Ausstellung zum Themenjahr Unterwelten im LWL-Industriemuseum.
Der Katalog zur Ausstellung ist im Museumsshop erhältlich:
Einfach anders! Jugendliche Subkulturen im Ruhrgebiet
Dietmar Osses, Katarzyna Nogueira (Hg.)
LWL-Industriemuseum, Klartext Verlag, Essen 2014,
260 Seiten, reich bebildert.
ISBN 978-3-8375-1183-3
Preis: 19,95 Euro
Begleitveranstaltungen
Do, 21.8. 19 Uhr
Ruhrgebeatsgirls. Musikalische Lesung. Ilse Jung erzählt über ihre Zeit bei den "RagDolls", der ersten Mädchen-Beat-Band im Revier (Foto).
So, 31.8. 16 Uhr
Techno, Ethno, Retro. Jugendliche Szenen und Subkulturen heute. Themenführung durch die Sonderausstellung
Do, 4.9. 19 Uhr
Hip Hop und Gangsta-Rap aus dem Revier. Jugendliche Subkulturen vor Ort zwischen international und interkulturell. Mit dem Historiker und Migrationsexperten Dietmar Osses
Begleitprogramm