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Einleitung


Einleitung
Dietmar Schade: "Mit Sinnen" - ein Ausstellungsexperiment

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Einen weiteren Schritt in der Entwicklung von der reinen Tastausstellung hin zu Konzepten, die andere Sinne als den Gesichts- oder Tastsinn fokussieren, bieten Projekte, deren besondere Ausrichtung auf einen der fünf Sinne ein Kernmerkmal ist. Als solche sind vor allem die Duft- und Tastgärten und Klangprojekte anzusprechen, bei denen es sich zumeist um Wissens- oder Erlebnisvermittlung handelt.

Abschließend sei noch hingewiesen auf die politische Dimension dieses Themas, wie sie sich manifestiert in dem Artikel 27.1 der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" und in der 1989 abgefassten "Liverpool Resolution". In jenem Artikel der Menschenrechtscharta heißt es: "Jedermann hat das Recht, sich ungehindert am künstlerischen und kulturellen Leben der Gesellschaft zu erfreuen ...". Seit zwei Jahrzehnten ist man international darum bemüht, diesen Grundrechtsanspruch sowohl auf der institutionellen als auch auf der politischen Ebene in die Tat umzusetzen. In den letzten Jahren ist auf europäischer Ebene ein verstärktes Engagement behinderter Menschen zu beobachten, welches unlängst seinen Niederschlag in der Madrid Declaration gefunden hat.10

Nach der Sichtung der Dokumentation diverser Ausstellungsvorhaben und der Forschungsliteratur der verschiedenen Wissenschaftszweige bleibt als Resümee Folgendes festzuhalten.

In den letzten zwanzig Jahren gab es zahlreiche Versuche einem blinden und sehbehinderten Publikum Kunst und Kultur nahe zu bringen, wobei es zunächst eine Konzentration auf den Tastsinn als Vermittlungsweg gab. Dieser Gedanke lag nah, da Kulturvermittlung auf dem Wege des bildlichen und textlichen Informationszugangs funktioniert. Der Schrift als Vermittlerin kulturellen Gutes kommt eine besonders große Bedeutung zu, da für blinde Menschen das Bild als Informationsträger ausfällt und sie sich die Schrift durch die haptische Wahrnehmung erschließen.

Ähnlich wie beim Lesen zielt eine Konzentration auf den Tastsinn zunächst auf das Erkennen des Objekts in seiner Form und Bestimmung, da inhaltliche Festlegung unabdingbare Grundlage eines kognitiven Prozesses ist. Dieser schnelle Erkenntnisweg ohne das freie intellektuelle Spiel als Auseinandersetzung mit der Kunst, die man als ein multisensuales Phänomen mit dem Ziel kognitiver Durchdringung verstehen kann, bleibt zunächst dem traditionellen Objektverständnis verhaftet.

Ein solch traditionelles Objektverständnis hat einen konservativen Umgang mit Kunst und Kulturphänomenen zur Folge und zielt vornehmlich auf die Illustration von Sachthemenkomplexen. Bei einer derartigen Herangehensweise beschneidet man die Möglichkeiten zur Abstraktion und Distanznahme vom Objekt, wodurch der Rezipient der Möglichkeit zu einer kritischen Auseinandersetzung und intellektuellen Betrachtung der vielfältigen Aussagemöglichkeiten einer Kunstäußerung jeglicher Art beraubt wird.

Da blinde Menschen über ein reiches Spektrum an Sinneswahrnehmung verfügen, können sie alle Sinneseindrücke zur Gestaltung wie zur Orientierung in ihrer Umwelt gezielt einsetzen, was den Gedanken nahe legt, die anderen Sinne zunächst als Einzelphänomene in das Zentrum der Aufmerksamkeit von Ausstellungsprojekten zu rücken.

In der Weiterentwicklung dieses Gedankens liegt eine Chance für zukünftige Kunst- und Kulturpräsentationen jeglicher Art. Die Kombination von unterschiedlichen Sinneseindrücken versteht, den vielfältigen Konnotationen des Aussagegehaltes eines Kunstwerkes gerecht zu werden.

Vergegenwärtigt man sich beispielsweise ein komplexes Kulturphänomen wie eine Opernaufführung, so treten mit der Musik, dem Schauspiel und der Bühnengestaltung drei Stränge von Wahrnehmungsweisen nebeneinander – der Gesang erwirkt emotionale Anbindung an das im Bühnengeschehen vermittelte narrative Moment, welches in dem mit den Mitteln des Bühnenbildes evozierten Raumbild verortet ist. Die Opernbesucherinnen und Opernbesucher können unterschiedlich gewichten; dem einen liegt besonders an der Musik, er räumt also der akustischen Wahrnehmung den Vorrang ein, der Zweite konzentriert sich auf das narrative Moment und bevorzugt, angeregt durch die optische Wahrnehmung, die Darstellung durch Mimik und Gestik, der Dritte richtet sein Interesse auf die räumlichen Eindrücke, die das Bühnenbild vermittelt, und ein Vierter gewichtet paritätisch und nähert sich so dem Gesamtkunstwerk.

Der Begriff des Gesamtkunstwerkes ist eingebettet in eine traditionelle kulturhistorische Entwicklung. Denn erst das neunzehnte Jahrhundert bewirkte in seinem Interesse an musealer Präsentation die Ausgliederung der einzelnen Objekte aus ihren kulturhistorischen Kontexten, mit dem Ziel, allgemeine Bildung durch eine moralisch orientierte Erziehung, fußend auf einem ästhetischen Wertekanon, zu manifestieren, und erreichte damit, dass das isolierte Artefakt zum reinen Anschauungsgegenstand wurde und zum Betrachter in Distanz trat. Durch eine rein ästhetische Wahrnehmung des isolierten Artefakts kam der Gedanke des Gesamtkunstwerks zunächst aus dem Blick und das museale Gut avancierte zum reinen Anschauungsobjekt.

Ein Umschlagen dieser Tendenz setzt mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Entwicklung zum erweiterten Objektbegriff ein, wie er sich in künstlerischen Tendenzen bereits in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts spiegelt, sich dann in den künstlerischen Strömungen der sechziger und siebziger Jahre vollends ausbildet, um schließlich in den achtziger Jahren, unter Hinzunahme der elektronischen Medienwelt, sich einem breitspektrierten Feld verschiedenster Möglichkeiten der Kombination von Sinneswahrnehmungen zu öffnen. Diesen kunsthistorischen Entwicklungen widmet sich Nicola Kochhafen in ihrem Beitrag zu vorliegender Publikation.11

Der erweiterte Objektbegriff in Verbindung mit den Möglichkeiten multisensualer Kunsterfahrung bildet das Fundament des hier vorgestellten Ausstellungskonzeptes "Mit Sinnen". Deutlich ist, dass dieser konzeptionelle Ansatz schon Vorformen kennt12.

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