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Einleitung


Einleitung
Dietmar Schade: "Mit Sinnen" - ein Ausstellungsexperiment

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Eine auf Gegenstandsidentifizierung zielende Betrachtung eines Kunstwerks impliziert nicht allein für blinde Menschen das Problem einer zu frühen Aufgabe des Erkenntnisinteresses im Hinblick auf eine intentionale Verwendung und Gewichtung bestimmter Ausdrucksformen seitens des Künstlers zur Vermittlung gezielter inhaltlicher Aussagen, vielmehr gilt auch für sehende Menschen, dass eine reine Motividentifikation schnell als Befriedigung im Prozess des Erfahrens der Ziele künstlerischer Äußerungen angesehen wird und dabei eine weitere Vertiefung in inhaltliche Konnotationen, intentionale Besonderheiten nicht in gebührendem Maße wahrgenommen werden. So treten sich in einem Prozess der motivorientierten Lesweise künstlerischer Objekte bei beiden Rezipientengruppen in gleicher Weise das einfache Erkennen und ein intentionales Nachspüren hemmend entgegen.6

Sowohl Révész als auch Kobbert klassifizieren Gegenstände im Bereich der haptischen Wahrnehmung in drei Gruppen: Unter Tastgestalt versteht man ein Objekt, welches, von der Hand umschlossen, sozusagen in einem simultanen Prozess gesamt begriffen werden kann (z.B. Streichholzschachtel, Radiergummi, Walnuss). Die Bewegungsgestalt stellt ein Objekt vor, bei dessen Erfassung der Tastvorgang selbst, Formwiederholung antizipierend, rhythmisch unterbrochen wird und dabei eher auf Ausdehnungs-, als auf Formerkennung zielt (z.B. Treppengeländer, Klaviertastatur). Bei der haptischen Gestalt handelt es sich um ein Objekt, das, hält man die Hand längere Zeit in einer bestimmten Tastposition, nicht mehr einwandfrei identifizierbar ist (z.B. Kleiderschrank, LKW).

Wenn auch die strukturellen und prozessgebundenen Voraussetzungen der haptischen und der optischen Wahrnehmung unterschiedlich sind, so gleichen beide sich doch in dem Punkt, dass der Wahrnehmungsvorgang mehr auf die Ganzheit des Objektes zielt, als auf die Einzelelemente desselben, ja die einzelnen wahrgenommenen Elemente werden der ganzheitlichen Wahrnehmung untergeordnet.

Den Tastsinn machen neben der haptischen Wahrnehmung die kinetischen Eindrücke aus. Daraus folgt, dass beim Prozess der ästhetischen Rezeption "Sinnlichkeit" und "Eigentätigkeit" in einander ergänzender Weise kombiniert wirken7. Vor diesem Hintergrund wird Max J. Kobbert in seinem Textbeitrag zu diesem Ausstellungsprojekt Gedanken entwickeln und weiterführen, die über das Phänomen der haptokinetischen Wahrnehmung noch hinausreichen und alle Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen unter Bezugnahme auf ihre Interdependenz und Komplexität einbeziehen8.

Wie schon angedeutet befasst sich ein weiterer Teil der erschlossen Literatur mit museumspädagogischen Fragen, die in erster Linie weniger auf die inhaltliche Vermittlung sondern vielmehr auf die Schaffung einer Infrastruktur, die blinden und sehbehinderten Menschen erst den Zugang zu musealem Gut ebnet, abzielen.

Pragmatische Überlegungen fallen besonders im Bereich des Substanzschutzes wie auch auf dem Feld der Orientierung im Raum an. Bei der Konzeption von Tastausstellungen stößt man immer wieder seitens der Konservatoren auf Bedenken, da viele Exponate beim Ertasten einen konkreten Substanzverlust erleiden könnten. Als Ansätze zu einer Risikominimierung werden folgende Vorschläge diskutiert: Das Waschen der Hände vor dem Tastrundgang, Ablegen von jeglichem Schmuck, Tragen von leichten Handschuhen während des Abtastens. Oftmals werden in hohem Maße gefährdete Objekte ganz aus den Projekten ausgesondert.

In diesem Zusammenhang wird nicht selten die Frage erwogen, ob das Original oder nicht besser eine Replik auszustellen sei, hierbei treten die "Aura des Objektes" und die "Praktikabilitätsaspekte" miteinander in Widerstreit.9

Weitere wichtige Aspekte bei der Durchführung von Ausstellungsvorhaben sind die praktischen Belange der Orientierung, die es den blinden Besuchern ermöglichen, selbständig den Ausstellungsraum zu erschließen. Dabei liegt auf den Leitsystemen ein besonderes Gewicht. Neben Geländern, Handläufen oder Seilen, die die einzelnen Exponate untereinander verbinden, bieten mit dem Fuß zu kontrollierende Raumerschließungsmöglichkeiten die geläufigsten Lösungsansätze. Darunter zu verstehen sind unterschiedliche Bodenbeläge oder Bodenleisten, die entweder die Betrachter von Objekt zu Objekt leiten oder den Standort eines Exponats markieren.

Hingewiesen wird auf die Notwendigkeit von Informationstexten und Objektbeschriftungen in Braille-Schrift und auf die Nutzbarkeit von Relief-Raumplänen. Bei der Aufstellung der Exponate ist darauf zu achten, dass ein einheitliches räumliches Niveau erreicht wird. Hinsichtlich der Gruppe der Sehbehinderten spielt neben der textlichen Ausstattung in Großschrift auch der durchdachte Einsatz des Lichtes eine wichtige Rolle. Zu den Informationshilfen, sowohl auf die Objekte als auch auf die Orientierung im Raum bezogen, sind CD- oder Kassettenführungen zu zählen. Im Rahmen der Konzeption von Tastausstellungen wird auf den größeren Zeitaufwand, der für eine haptische Erfassung von Kunstwerken zu veranschlagen ist, verwiesen, durch welchen die Auslastung des räumlichen und zeitlichen Kontingents, selbst bei geringer Exponatenzahl, rasch erreicht wird.

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