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Karl-Heinz Brosthaus: Mit Händen oder "Mit Sinnen"?
Das Angebot für sehbehinderte und blinde Menschen im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl

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Nach einem Aufruf zur Mitarbeit in der Tonbandzeitung "Kreis-Echo" fanden sich spontan sieben Hörerinnen und Hörer derselben zur Mitarbeit bereit. Jede/r Hörer übernahm die Besprechung von zwei Skulpturen (einer Kleinplastik und einer größeren Arbeit). Die Gruppe der sehbehinderten und blinden Mitarbeiter umfasste, entsprechend der heterogenen Struktur der Menschen mit Sehbehinderungen: Geburtsblinde, Kriegs- und Altersblinde, letztere können im Gegensatz zu den Geburtsblinden optische Erinnerungsbilder heranziehen sowie Schwerstsehbehinderte, die noch über wenige Prozent der normalen Sehkraft verfügen.7 Nur einer der sehbehinderten Teilnehmer, die zur Zeit der Produktion des akustischen Führers zwischen 27 und 68 Jahre alt waren, hatte bereits Erfahrungen im Umgang mit Kunst sammeln können. Somit waren sie repräsentativ für die blinden Benutzer. Aber auch für die Sehenden, denen der akustische Führer ebenfalls zur Verfügung stehen sollte, kann eine ähnliche Zahl angenommen werden.

Da den sehbehinderten Teilnehmern bei der Betrachtung der Skulpturen nur so weit Hilfestellung gegeben wurde, dass völlig irreführende Sichtweisen der jeweiligen Plastik vermieden werden konnten, ist festzuhalten, dass die zu hörenden Beschreibungen und Interpretationen der einzelnen Kunstwerke genauso subjektiv und von der einzelnen Person geprägt sind, wie es auch bei Sehenden der Fall ist, sie also nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben.

In Kenntnis dass sehbehinderte und blinde Menschen zumeist keine Erfahrungen im Umgang mit Kunst, zumal nicht mit zeitgenössischer, haben, wurde bewusst darauf abgezielt, mit dem akustischen Führer eine erste Begegnung mit Kunst zu ermöglichen, die dann vielleicht das Interesse weckt, sich regelmäßig und intensiver mit Werken der Kunst auseinanderzusetzen.

Für die Erstellung der Besprechungen der einzelnen Skulpturen wurde folgende Vorgehensweise als sinnvoll angesehen: Zunächst wurde dem/der blinden Mitarbeiter/in die individuell gewünschte Zeit gegeben, sich intensiv und ungestört mit der jeweiligen Skulptur zu befassen. So verschaffte sich der jeweilige Sprecher einen Überblick über die Skulptur. Dabei wurden strukturierte Oberflächen sofort einer intensiveren Analyse unterzogen. Glattere hingegen wurden schnell abgetastet und erst bei der Erstellung des plastischen Zusammenhanges eingehender berücksichtigt. Immer wieder wurde zuerst versucht, ein Detail der Plastik tastend zu identifizieren, um daraus dann Rückschlüsse auf die Gesamtdarstellung zu ziehen. Um eine möglichst umfassende Vorstellung der Skulptur zu gewinnen, erfolgte deren Analyse meist mit beiden Händen gleichzeitig, wenn man so will also in einer dem stereoskopischen Sehen vergleichbaren Weise. Bei Kleinskulpturen wurde durch Anheben deren Gewicht geprüft. In Ergänzung zum Betasten wurde häufig auch die akustische Wahrnehmung hinzugezogen, denn durch Klopfen mit dem Fingerknöchel entlockten die Interpreten den Skulpturen oftmals Töne, die zur Identifizierung des Materials und beispielsweise der Dickwandigkeit der Skulptur mit herangezogen wurden. Immer wieder waren die sehenden Mitarbeiter über die präzisen Angaben zu Größe, Gewicht und Material der Plastiken erstaunt.

Um die Oberflächen der Skulpturen durch das Betasten nicht zu gefährden, legten die Mitarbeiter – wie es auch von den späteren Benutzern erwartet wurde – vor dem Betasten der Plastiken eventuell vorhandenen Finger- und Armschmuck ab und wuschen sich die Hände.8 Verschmutzungen der Skulpturen im Außenbereich wurden vor Beginn der Arbeit entfernt.9 Nur wenn in der ersten, eigenständigen Auseinandersetzung mit der Plastik gravierende Irrtümer in der Identifizierung einzelner Teile oder der gesamten Skulptur auftraten, griffen die sehenden Mitarbeiter ein, um eventuell später daraus resultierende Fehlinterpretationen auszuschließen. Gleichzeitig wurde den blinden Mitarbeitern dadurch deutlich, dass mit ihnen nicht ein Ratespiel durchgeführt wurde und sie ernst genommen wurden. Hilfestellung wurde besonders bei den Skulpturen erbeten, die wegen der künstlerischen Abstraktion nicht genau dem natürlichen Vorbild entsprachen. Gleichzeitig entfachten sich beim Betrachten von abstrakteren Plastiken besonders durch Späterblindete bisweilen vehemente Diskussionen, da immer wieder in der Realwelt gemachte Seherinnerungen zur Beurteilung der Plastik herangezogen wurden. Waren auch bei sehenden und blinden Teilnehmern Schwierigkeiten im Nachvollzug des Abstraktionswillens des Künstlers anzutreffen, so fiel die Häufigkeit des Widerspruchs gerade bei den Späterblindeten auf, was sicherlich als Hinweis auf die Dominanz des visuellen Vorwissens zu werten ist.

Nachdem die ertasteten Eindrücke auf Band gesprochen waren – bisweilen erfolgte dies auch in Dialogform mit einem Sehenden – wurde ein Kommentar, ein klärendes Gespräch oder auch eine tiefergehende gemeinsame Analyse der Skulptur angeschlossen. So treten neben die individuelle Beschreibung Ansätze zu einer weitergehenden Interpretation; ferner werden auch kunsthistorische Fakten geliefert, die das Verständnis der Arbeit erleichtern können. Die Daten zu den besprochenen Skulpturen (Titel, Entstehungsjahr, Material, Maße) wie auch eine Kurzbiografie des Künstlers vertiefen die gewonnenen Erkenntnisse und erlauben einen Einblick auch in außerkünstlerische Zusammenhänge. Wie die blinden Kolleginnen und Kollegen verzichten auch die sehenden Mitarbeiter auf schriftliche Vorlagen. Lediglich die Kurzbiographien der Künstler wurden abgelesen, um sachliche Fehler zu vermeiden.

Im Tonstudio wurden die Direktmitschnitte – sofern notwendig – auf eine für die späteren Hörer zumutbare Zeit gekürzt. Hierbei wurde darauf geachtet, dass die Kürzungen keine Sinnverschiebungen ergaben und die für jeden Sprecher typische Charakteristik erhalten blieb. Die gekürzte Version wurde dem/der jeweiligen blinden Mitarbeiter/in zu Gehör gebracht und erst nach dessen Einverständnis in den akustischen Führer aufgenommen.

Bisher stehen den sehbehinderten Museumsbesuchern die Besprechungen von vierzehn Skulpturen zur Verfügung. Die tragbaren Abspielgeräte sind den Benutzern vertraut und ihre Handhabung bereitet keine Probleme: Sie lassen sich an der Kleidung befestigen und halten damit die Hände für das Betrachten der Skulpturen frei. Gegen Hinterlegung eines Pfandes (z.B. Personalausweis) sind die Geräte beim Aufsichtspersonal auszuleihen, das – falls doch notwendig – die Bedienung der Geräte erläutert. Ferner sind dort auch Auskünfte über die Standorte der Skulpturen im Innen- wie Außenbereich zu erfahren.

Um aber den blinden und sehbehinderten Besuchern auch die eigenständige Orientierung im Außenbereich zu ermöglichen, sind bei der Aufsicht in Braille beschriftete Tastpläne erhältlich, in denen die Standorte der Außenplastiken eingezeichnet sind. Dieser Plan liegt ebenfalls in Schwarzschrift vor, damit sich die sehende Begleitperson – nur wenige Blinde verfügen nämlich über die für einen Museumsbesuch notwendige Mobilität – ebenfalls orientieren kann.

In Probebegehungen und mehrfachem Probehören wurden der Tastplan wie auch die einzelnen Werkbesprechungen von den blinden Mitarbeitern gegenseitig auf ihre Benutzbarkeit überprüft.

Dennoch stellte der vorliegende akustische Führer nur eine vorläufige Version dar. Die im Laufe der Zeit gesammelten Erfahrungen sollten helfen, notwendige und hilfreiche Verbesserungen zu berücksichtigen. Um die Hinweise sammeln zu können, wurde bei der Aufsicht im Museum ein Aufnahmegerät mit einer Leerkassette bereitgestellt, auf welche im Anschluss an die Benutzung des akustischen Führers Kritik, Anregungen und Verbesserungsvorschläge gesprochen werden können. In den Benutzerhinweisen der Tonbandführung wird auf diese Möglichkeit der aktiven Mitarbeit hingewiesen und jeder Benutzer um Unterstützung gebeten.

Am 4. März 1989 wurde der akustische Führer der Öffentlichkeit vorgestellt und steht seither zur Benutzung zu Verfügung.

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