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Aus den Augen – in den Sinn

Wahrnehmungspsychologische Aspekte der Ausstellung "Mit Sinnen"

von Max J. Kobbert

"Mit Sinnen" ist eine Ausstellung von vierfach experimentellem Charakter. Erstens entrückt sie bildende Kunst und Künstler aus ihrem visuellen Kulturdomizil und schafft damit Unsicherheiten, wie sie Kunst für ihre Fortentwicklung stets genutzt hat. Zweitens schafft sie blinden und sehbehinderten Menschen eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst über den rein haptischen Zugang hinaus. Drittens eröffnet sie den Sehenden Bereicherungen in Sinnesfeldern, die unsere optisch dominierte Welt vernachlässigt hat. Und sie provoziert viertens einen Dialog zwischen Blinden und Sehenden Individuen auf einem Terrain ohne feste Wege, auf dem jeder von den Erfahrungen des anderen lernen kann und der so beide Seiten zusammenführt.

Wahrnehmungswelten

Blindheit ist seit alters her ein Begriff von höchster Ambivalenz. Auf der einen Seite beschreibt er einen Mangel an Erkenntnisfähigkeit, auf der anderen Seite – in der Gestalt des blinden Sehers – beschreibt er eine besondere Form der Erkenntnis, die sich durch äußeren Schein nicht täuschen lässt.

Jenseits von Vorurteilen und Mythen lässt sich feststellen, dass die Erfahrungswelt geburtsblinder Menschen in sich so vollständig ist wie die sehender. Unvollständig ist sie in Relation zu der Welt Sehender im gleichen Sinne, wie die Welt Sehender unvollständig ist gegenüber der Welt von Bienen, Klapperschlangen, Fledermäusen oder Fischen, die ultraviolettes und polarisiertes Licht, Wärmebilder, Ultraschall oder elektrische Felder wahrnehmen können und damit eine Welt erfahren, die kein Mensch sich vorstellen kann.

Die phänomenale Wirklichkeit jedes erlebenden Individuums ist ein kreatives Produkt des Gehirns, das auf der Basis dessen, was die Sinnesorgane im Zuge der Interaktion mit der physikalischen und sozialen Umwelt liefern, ein geschlossenes Modell vom Individuum und seiner Welt erschafft. Dieses Modell wird allerdings nicht als Modell erlebt, sondern es ist identisch mit der erlebten Wirklichkeit. Dieses Primärmodell deckt bei keinem Lebewesen die Gesamtheit der physikalischen Wirklichkeit ab, sondern stets nur einen kleinen Ausschnitt. So gesehen sind alle Menschen blind.

Auf der anderen Seite befinden sich alle Menschen in der Rolle des blinden Sehers insofern, als die grundsätzliche Beschränktheit der Sinne durch Sekundärmodelle erweitert wird. Dies sind Vorstellungen und Gedankenwelten, die über die unmittelbare Sinneserfahrung hinausgehen. Ihre Subjektivität und ihr Konstruktionscharakter sind kritischen Menschen im Allgemeinen bewusst, doch nehmen sie nicht selten den Charakter von Gewissheiten an. Physikalische, kosmologische und religiöse Weltbilder sind von dieser Art, mentale Repräsentationen von sozialen Systemen und geistigen Zusammenhängen und schon die Vorstellung von der eigenen Stadt. Solche Sekundärmodelle sind abstrakter als das Primärmodell. Blinde sind in der Bildung solcher Modelle oft den Sehenden überlegen, weil ihre Vorstellungsfähigkeit von einem notgedrungen gut geschulten Gedächtnis unterstützt wird. Denn was der Sehende mit einem Blick erfasst, muss der Blinde aus anderen Quellen sich sukzessiv erarbeiten und braucht gute Merk- und Erinnerungsfähigkeit, um die Daten zu einem Ganzen zu binden.

Jeder Sinn hat seine je besonderen Qualitäten, die ihn vor allen anderen auszeichnen. Solche "Quale" sind subjektive Erfahrungen, die letztlich nicht kommunikabel sind. Diese grundsätzliche Grenze der Kommunikation wird z.B. deutlich, wenn der Sehende versucht, einem Blinden "Rot" zu erklären. Oder wenn der Geburtsblinde dem Sehenden versucht zu erklären, wie er sich einen Raum vorstellt. Solche Versuche sollen hier nicht angestellt werden; sie sind aber in Gesprächen für beide Seiten bemerkenswert und führen, wenn auch vielleicht nicht zum angestrebten Ergebnis, so doch zu interessanten Einsichten.

Im Folgenden sei vor allem auf intermodale Eigenarten der Wahrnehmung eingegangen, also auf solche, die unterschiedlichen Sinnessystemen gemeinsam sind oder sich durch deren Zusammenspiel ergeben. Vor allem soll die Aufmerksamkeit den Sinnen gelten, die von den Objekten und Installationen dieser Ausstellung primär angesprochen werden: Tastsinn, Bewegungssinn, Gehörsinn und Gleichgewichtssinn.
Zwar sind die beteiligten Künstler ausnahmslos sehende Künstler. Doch sie folgen einer Entwicklung, die sich seit dem 20. Jahrhundert immer stärker zeigt, der Entwicklung von einer rein visuellen hin zur multimodalen Kunst. Sie ist nicht zu verwechseln mit "Multimedia". Dies ist ein Terminus aus der Technik, der besonders die elektronischen Vermittlungsmöglichkeiten von Bild, Ton und Text meint und nur Hören und Sehen als Sinne anspricht. "Multimodale Kunst" dagegen meint, dass unterschiedliche Sinne in einem Gesamtkunstwerk angesprochen werden, unabhängig davon, ob der Künstler sich dabei vermittelnder Techniken bedient oder mit der unmittelbaren Sinnlichkeit von Objekten arbeitet.

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