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Mit Händen oder "Mit Sinnen"?

Das Angebot für sehbehinderte und blinde Menschen im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl

von Karl-Heinz Brosthaus

"Ich bin mitunter im Zweifel, ob die Hand nicht empfänglicher für die Schönheit der Plastik ist als das Auge. Ich sollte meinen, der wunderbar rhythmische Fluß der Linien ließe sich besser fühlen als sehen."1 Helen Keller

Seit der Gründung der ersten Blindenschulen in Frankreich und England gegen Ende des 18. Jahrhunderts und den sich anschließenden Gedanken zum Kunstunterricht für Sehbehinderte und blinde Schüler gewann die Auffassung an Bedeutung, dass das "Begreifen" mit den Händen für die nichtoptische Wahrnehmung dreidimensionaler Gegenstände von zentraler und nahezu alleiniger Bedeutung sei. Als logische Folge ergab sich hieraus die bis zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts unbestrittene Dominanz der Tasterfahrung für blinde Menschen im Umgang mit dreidimensionalen Werken der Kunst, die immer wieder durch Theoretiker wie auch Bildhauer bestätigt wurde.2

Entsprechend dieser, dem Tastsinn beigemessenen Bedeutung konzentrierte sich die Arbeit der Kunstmuseen für und mit blinden Besuchern lange Zeit auf die so genannten ‚Tastausstellungen’.3 So lag es bei der Gründung des Skulpturenmuseums Glaskasten Marl, einem Museum, welches sich der Skulptur seit Beginn des 20. Jahrhunderts widmet, nahe, gerade wegen der Spezialisierung auf dreidimensionale Bildwerke den sehbehinderten und blinden Museumsbesuchern besonderes Augenmerk zu schenken. Waren schon 1978 Führungen für blinde Menschen geplant, nahm dieses Vorhaben in enger Kooperation mit den Blindenvereinen Marl und Dorsten zu Beginn des Jahres 1979 konkrete Formen an. Unter Mitwirkung des Westfälischen Blindenvereins wurde damals sogar daran gedacht, das gesamte Museum blindengerecht zu gestalten, was letztlich wegen der Kosten nicht realisiert wurde. Die Gründung des "Kreisechos", der Tonbandzeitung des Kreises Recklinghausen für seine über 600 sehbehinderten und blinden Einwohner, im gleichen Jahr4 stellte den Überlegungen seitens des Museums einen Kooperationspartner an die Seite, der über die Kontakte zu den sehbehinderten Museumsbesuchern verfügte. Im Herbst 1979 bildete sich eine Arbeitsgruppe von Museumsleuten, blinden Mitarbeitern und Künstlern, die spezielle Führungen für sehbehinderte und blinde Menschen konzipierte und die Planungen für ein blindengerechtes Museum weiter vorantrieb. Bei den regelmäßigen Treffen hatten die blinden Teilnehmer Gelegenheit, unterschiedliche Skulpturen aus dem Bestand des Museums eingehend zu betrachten. Auch die Pläne für das blindengerechte Museum wurden konkreter, und im November meldete die Marler Zeitung: "Pionierarbeit mit Erfolg abgeschlossen: Konzept für Blindenmuseum ‘steht’".5 Der Optimismus dieser Meldung war jedoch verfrüht, denn durch finanzielle und damit auch personelle Engpässe beschränkte sich die Tätigkeit der Arbeitsgruppe auf Besuche von Ausstellungen für sehbehinderte und blinde Museumsbesucher und weitere Planungstreffen, die sich zeitweise auf einen zielgruppenorientierten Kunstführer für den Kreis Recklinghausen konzentrierten.

Nachdem 1986 ein Museumspädagoge seine Arbeit im Skulpturenmuseum Glaskasten aufgenommen hatte, erfuhr die Arbeit mit sehbehinderten und blinden Menschen nicht zuletzt durch die erweiterten personellen Möglichkeiten eine erneute Belebung. In enger Zusammenarbeit mit den Redakteuren des "Kreisechos" wurde die Planung für einen akustischen Führer aufgenommen, der eine eigenständige Auseinandersetzung mit einigen Arbeiten aus der Sammlung des Museums ermöglichen und das Angebot der personellen Führungen ergänzen sollte. Der Audioführer sollte nicht als kunstwissenschaftlicher Kommentar zu den ausgewählten Skulpturen gestaltet sein, sondern Kunstlaien Hinweise zu einzelnen Kunstwerken liefern und so einen Einstieg in die Kunst ermöglichen, zumal bei sehbehinderten Rezipienten diesbezüglich meist keine oder nur sehr geringe Vorkenntnisse vorausgesetzt werden können. Gleichzeitig war von Anfang an daran gedacht worden, den akustischen Führer auch interessierten sehenden Besuchern zur Verfügung zu stellen, da die haptische Erfahrung für diese ein intensiveres Wahrnehmungserlebnis darstellt als das ausschließlich optische Erfassen dreidimensionaler Gegenstände.

Um einen wirklich sehbehindertengerechten akustischen Führer durch Teile der Sammlung des Museums entwickeln zu können, wurde beschlossen, die späteren Nutzer von Anfang an in das Projekt zu integrieren. Dies geschah nicht zuletzt auch aus dem Grund, dass in Marl mit einem solchen Projekt damals Neuland betreten wurde. Blinde und sehende Menschen erarbeiteten ein Konzept für den Audioführer, das dann gemeinsam realisiert wurde. Einmalig war es damals in Deutschland – und auch aus anderen Ländern waren vergleichbare Projekte ebenfalls nicht bekannt –, schon bei der Erstellung einer Tonbandführung für Blinde Mitglieder der Adressatengruppe umfassend zu beteiligen, um mit ihrer Hilfe ganz gezielt auf die Bedürfnisse von blinden Menschen eingehen zu können. Es sollte auf alle Fälle vermieden werden, den späteren Nutzern ein durch Außenstehende verfasstes "behindertengerechtes" Medium vorzusetzen. Schon während der Arbeit an dem akustischen Führer erwies sich die gewählte, sicherlich zeitaufwendigere Vorgehensweise als die pädagogisch sinnvollere und richtige, denn nicht nur einmal wiesen die blinden Mitarbeiter den Sehenden den Weg zur blindengerechten Gestaltung der Tonbandführung. Gerade in Details reichte das Vorstellungsvermögen der Sehenden oft nicht aus, sowohl die Schwierigkeiten der Blinden bei der Betrachtung von Skulpturen wie auch deren (oft unterschätzte) Wahrnehmungsmöglichkeiten richtig zu beurteilen.

Aus der ständigen Sammlung des Skulpturenmuseums Glaskasten wurden 14 Skulpturen für die Tonbandführung ausgewählt, die sowohl im Innen- wie im Außenbereich des Museums aufgestellt sind. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Plastiken:

Obwohl die ausgewählten Arbeiten überwiegend als figürliche Plastiken zu kennzeichnen sind, zeigen einige von ihnen doch einen sehr hohen Abstraktionsgrad bis hin zur Ungegenständlichkeit. Wurde hier also ein Spektrum des Realismus angestrebt, so erfolgte die Auswahl der Skulpturen natürlich auch unter konservatorischen Aspekten. Aus diesem Grunde wurden Skulpturen mit empfindlichen und gleichermaßen solche mit sehr scharfkantigen Oberflächen (Fragilität und zusätzlich Verletzungsgefahr) ausgeschlossen.6 Ferner berücksichtigte die Auswahl die Dimensionen der Skulpturen, denn alle für den akustischen Führer ausgewählten Werke sollten in ihren Maßen von den blinden Rezipienten ertastbar, das heißt, durch die Armspanne und die Greifhöhe in ihren Proportionen erfahrbar sein.

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