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Texte


Die unmittelbare Sprache der Kunst und ihre Wurzeln im 20. Jahrhundert

von Nicola Kochhafen M.A.

"Die Kunst ist statt eines Objektes, das von einer Person hergestellt wurde, ein Prozeß, der von einer Gruppe in Bewegung gebracht wird (...) Sie bedeutet nicht, daß jemand etwas sagt, sondern daß Leute etwas tun, daß jedermann die Chance gegeben wird, Erfahrungen zu machen, die er sonst nicht mehr gemacht hätte."1 John Cage

Das Ausstellungsprojekt "Mit Sinnen" beschreitet in der Ausstellungspraxis Deutschlands neue Wege und stellt sowohl für beteiligte Künstler als auch für Projektmitarbeiter und Besucher eine neue Herausforderung dar.

Warum? Es geht hier nicht um das Lebenswerk eines Malers, um die Darstellung einer Stilepoche oder um das Thema Kopf. Die Auswahlkriterien für die Objekte und Installationen sind bewusst anders und neu gesetzt: Die sinnlichen Qualitäten der Kunstwerke und ihre Zugangsmöglichkeiten auch für blinde und sehgeschädigte Menschen waren für die Auswahl bzw. Entstehung der Werke entscheidend. Die Vernachlässigung visueller Komponenten und die besondere Berücksichtigung im Kunstgeschehen weitgehend ausgeschlossener Besuchergruppen haben weitreichende Folgen für die Rezeption, die "Erfahrbarkeit" der Werke. Und bergen auch ungeahnte Chancen.

Im vorliegenden Aufsatz wird der Versuch unternommen, das Ausstellungsprojekt "Mit Sinnen" kunsthistorisch zu verorten. Betrachtet man die Vielfalt der künstlerischen Ansätze von "Mit Sinnen" und das außerordentlich reiche Spektrum künstlerischer Ausdrucksformen, das sich im 20. Jahrhundert gebildet hat, wird man schnell feststellen, dass einige wenige Schubladen im Schrank der Kunst nicht ausreichen. Jedoch lassen sich im Rückbezug auf die Ausweitung des Werkbegriffs und die Rezeptionsästhetik der Moderne drei elementare Entwicklungslinien herausdestillieren, die für die 17 Künstlerpositionen im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl und an den Satellitenorten Detmold, Münster und Dortmund wesentlich sind: Die Erweiterung der künstlerischen Ausdrucksmittel durch neue Materialien und grenzübergreifende Medien, die Absage an die Sockelplastik und die daraus erfolgende Ausweitung des Objektes in den Raum, und zuletzt die Rücknahme des Künstlers aus dem Werkprozess zugunsten des Rezipienten. Bezeichnete Entwicklungslinien setzen alle ca. 1912 an und werden im Folgenden bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts anhand markanter künstlerischer Positionen streiflichtartig beleuchtet. Da alle drei Merkmalslinien eng miteinander verwoben sind, sind Überschneidungen nur natürlich und signalisieren letztendlich kunsthistorisch besonders bedeutsame Entwicklungsschritte.

Von der Bronzeplastik zur immateriellen Sprache der Kunst

"Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar."2 Paul Klee

Der zitierte Ausspruch Paul Klees aus dem Jahr 1920 wird immer wieder, und zurecht, als besonders aussagekräftig für die Entwicklung künstlerischer Prozesse und Ausdrucksformen im 20. Jahrhundert herangezogen und ist insbesondere angesichts des Marler Ausstellungsprojektes heute noch aktuell.

Futuristen und Kubisten wenden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der reinen Nachahmung der Natur ab. Während die Futuristen Technik und Fortschritt feiern, in zahlreichen Manifesten die Abschaffung herkömmlicher Materialien wie Marmor und Bronze fordern und Skulpturen schaffen, die Bewegung visualisieren, überträgt Pablo Picasso das kubistische Verfahren 1912 ins Dreidimensionale: Eine Gitarre wird von ihm nicht realitätsgetreu nachgebildet, sondern in verschiedene geometrische Einheiten zerlegt, unterschiedlichen Proportionen und Perspektiven unterworfen und so abstrahiert neu zusammengesetzt. Der Einsatz neuer, im Kunstkontext vorher unberücksichtigter Materialien hilft bei diesem Vorhaben: So wie bereits im Bereich der Collage, in den sogenannten "Papiers collés" vorgeführt, unterstützt die Integration realer Materialien wie Blech, Draht, Bindfaden und Papierfundstücke Picasso bei dem Vorhaben, den Gegenstand nach seiner inneren Vorstellung neu zu erschaffen.

Der konstruktivistische Ansatz verzichtet bald auf jegliche gegenständliche Assoziation. Wladimir Tatlin untersucht ab 1914 Materialien und ihre besonderen Eigenschaften wie Farbe, Struktur, Gewicht und Elastizität und fordert, "im Material selber die Vorbedingungen zur Form ausfindig zu machen".3 Seine abstrakten Reliefs aus Holz, Glas, Metall, Blech und Teer betonen vor allem den Selbstausdruck des Materials und verlangen förmlich, so El Lissitzky in einem Vortrag über Tatlin, dass die Betrachter "das Auge auf den Tastsinn einrichten".4

Alltagsgegenstände und Fundstücke, so genannte "Objets trouvés", Abfallprodukte wie Briefmarken und Etiketten, werden von Surrealisten und Dadaisten als beziehungsreiches Ausgangsmaterial herangezogen und in neuer Funktion in Kunstwerke integriert. 1936 überzieht Meret Oppenheim eine handelsübliche Tasse samt Untertasse und Löffel mit Fell ("Das Frühstück im Pelz") und verleiht dem Alltagsgegenstand irritierende und befremdliche Züge. Durch den künstlerischen Eingriff in die Materialhaftigkeit der Tasse werden verschiedene Wirklichkeitsebenen miteinander konfrontiert und assoziativ mit unterbewussten psychischen Strukturen verknüpft. Die Pelztasse evoziert auf diese Weise ambivalente Gefühle zwischen Anziehung und Distanz, Erotik und Ekel.

Zeitgleich zur Entdeckung kubistischer Gestaltungsformen findet noch ein anderes besonderes Kunstereignis statt: Mit dem "Fahrrad-Rad" eröffnet Marcel Duchamp 1913 die Reihe seiner berühmt gewordenen Readymades. Das Rad eines Fahrrads wird auf einen Hocker, den Sockel der Kunst, montiert oder ein industriell gefertigter Gebrauchsgegenstand wie ein Urinoir wird um 90 Grad gedreht und durch die Signatur des Künstlers zum Kunstwerk erhoben ("Fontaine" von 1917). Der banale Gebrauchsgegenstand verkörpert in der Kunstausstellung ein Stück Wirklichkeit, ist seiner eigentlichen Zweckbestimmtheit jedoch enthoben und muss vom Betrachter letztlich neu gedeutet werden.

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