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Karl-Heinz Brosthaus: Mit Händen oder "Mit Sinnen"?
Das Angebot für sehbehinderte und blinde Menschen im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl

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Eine Veränderung des akustischen Führers wurde aber schon bald nach seiner offiziellen Vorstellung vorgenommen. Da sich die einzelnen Beiträge zunächst alle auf einer Kassette befanden, wurde das Auffinden bestimmter Textstellen bisweilen zu einem ungewollten Suchspiel. Um das zu vermeiden, wurden die einzelnen Beiträge auf separate Kassetten kopiert, so dass es kein langes Suchen mehr gibt, wenn man sich zum Beispiel bei einem zweiten Museumsbesuch andere Skulpturen ansehen möchte.

Den technischen Entwicklungen folgend liegt der akustische Führer mittlerweile auf Audio-CD vor, wodurch die Handhabung erheblich erleichtert wurde, da das bisweilen umständliche Hantieren mit mehreren Tonkassetten nun wegfällt.

Die Benutzung des akustischen Führers steht auch den sehenden Besuchern offen. Ihnen wird es durch dessen Gebrauch möglich, den Erkenntnisprozess der sehbehinderten Mitmenschen nachzuvollziehen und vielleicht auch tiefergehende Erkenntnisse zu gewinnen, die sich der oftmals erheblich flüchtigeren optischen Wahrnehmung entziehen.

Obwohl viele Blindenvereine und Blindenschulen über den akustischen Führer informiert wurden, hielt sich die Nachfrage nach diesem Angebot des Museums in Grenzen. Zwar kamen immer wieder Gruppen, um sich über den akustischen Führer zu informieren und Erfahrungen mit ihm zu sammeln, aber regelmäßige Besuche von blinden oder sehbehinderten Einzelbesuchern blieben selten. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die meist vergessene "zweite Behinderung" der blinden Menschen, die fehlende Mobilität, die sie oftmals von einem sehenden Helfer abhängig macht.

Die interessantesten Veranstaltungen waren die, bei denen blinde Besucher – seien es Mitarbeiter am akustischen Führer, als auch andere Mitglieder der Blindenvereine im Kreis Recklinghausen – gemeinsam mit sehenden den akustischen Führer erprobten, nicht zuletzt weil anlässlich dieser Treffen im Museum das Kennen lernen und die Kommunikation von Behinderten und Nichtbehinderten wesentlichen Raum einnahmen. Von diesen Veranstaltungen profitierten nach eigenen Aussagen besonders die sehenden Teilnehmer, die oftmals nie zuvor mit einem blinden Menschen gesprochen hatten und nun Gelegenheit fanden, eigene Vorurteile und Barrieren im Umgang mit Sehbehinderten abzubauen.10

Auf großes Interesse stieß der akustische Führer bei Studierenden der Fachrichtung Pädagogik und bei Museumspädagogen.11 Besonders intensiv setzte sich eine Studentengruppe der Folkwang-Hochschule für Musik, Theater, Tanz in Essen und Duisburg im ersten Halbjahr 1990 mit dem akustischen Führer des Skulpturenmuseums Glaskasten auseinander.12 Im Rahmen ihres Projektes besuchten die Studenten gemeinsam mit Blinden und Sehbehinderten das Museum. Neben der kritischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem akustischen Führer und der Wahrnehmung von Kunst durch sehbehinderte Menschen wurde aber die Begegnung von behinderten und nichtbehinderten Besuchern zum zentralen Erlebnis für die Beteiligten, besonders für die Studenten. Gleiches gilt für eine Diplomarbeit über die Angebote für sehbehinderte und blinde Besucher im Skulpturenmuseum Glaskasten13, in deren Zusammenhang mehrmals Treffen mit Blinden und Sehbehinderten stattfanden.

Konzentriert sich der akustische Führer im Wesentlichen auf die haptischen Wahrnehmungen durch den Betrachter, so ist das durch die ausgewählten Skulpturen mitbedingt. Zwangsläufig werden aber durch das Tasten auch andere Sinne angesprochen, zum Beispiel dadurch, dass ein erkennendes haptisches Wahrnehmen nur mittels Bewegung der Hände möglich ist. Bisweilen trat auch das Gehör dem Tasten zur Seite, um das Material der Plastik zu ermitteln.

Die Ausstellung "Mit Sinnen" geht über den akustischen Führer hinaus, indem sie den Besucher mit komplexeren Kunstwerken konfrontiert, die damit auch eine komplexere Beschäftigung mit ihnen fordern. Sicherlich ist bei einigen Objekten der haptische Eindruck durchaus noch von Bedeutung, bei anderen hingegen – speziell den Installationen – entzieht sich das Kunstwerk fast völlig der tastenden Hand und verlangt die Rezeption über andere Wahrnehmungsmechanismen, sei es das Gehör, der Geruchssinn, das Spüren von Bewegung oder Wärme. In vielen Fällen fordern die Kunstwerke den simultanen Rückgriff auf mehrere Sinne; dies geschieht zwar auch im alltäglichen Leben sehr häufig, nur wird uns dort die Komplexität unserer Wahrnehmung meist nicht bewusst, da sie uns ja nur als Mittel zum Zweck dient.

Dass dreidimensionale Kunstwerke nicht ausschließlich auf die materielle Gestaltung eines plastischen Volumens beschränkt sein müssen und auch mit anderen Mitteln wie beispielsweise mit Ton- und Lichteffekten arbeiten können, wurde durch den technischen Fortschritt des 19. Jahrhunderts auch in der Kunst verstärkt realisierbar. Durch die enge Verflechtung der Künste im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gewann zunächst besonders die Musik – oder allgemeiner die Akustik – für das skulpturale Schaffen an Bedeutung.14 Spätestens seit dem Futurismus, dessen Künstler in ihren Manifesten die Verwendung nahezu aller Materialien, von Geräuschen und sogar Gerüchen postulierten und diese Forderungen in ihren Werken auch teilweise realisieren konnten15, haben die tradierten Gattungsbegriffe ihre Gültigkeit verloren, und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten haben sich entsprechend erweitert. In der Musik geschah Ähnliches. Erik Satie (1866-1925) fasste seine Musik unter dem Begriff "musique d’ameublement" zusammen, was meint, dass die Musik den Menschen so selbstverständlich wie Möbelstücke umgeben solle. Was damals noch provozierte und schockierte, gilt heute nahezu als normal: Kunstwerke, die simultan mehrere Sinne ansprechen und somit die Wahrnehmung mit entsprechend vielen Sinnen einfordern. Gerade der Einbezug der Akustik in Werke der bildenden Kunst stellt für blinde Rezipienten eine gute Zugangsmöglichkeit dar, ist doch das Gehör der wichtigste Fernsinn, über den sie verfügen.16

Alle in der Ausstellung gezeigten Objekte und Installationen sind – wenngleich sie großteils speziell zu diesem Anlass entwickelt wurden – sowohl für sehende wie auch blinde Museumsbesucher erfahrbar. Somit bietet die Ausstellung Gelegenheit zur Begegnung von Sehbehinderten und Sehenden und zum Austausch ihrer unterschiedlichen Wahrnehmungen und Sichtweisen.

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