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Aufbau West – Aufbau Ost

Interview mit Dr. Arnold Lassotta

Welche Umbrüche erfuhr die deutsche Wirtschaft nach 1945 durch Flucht und Vertreibung?

Im deutschen Reich hatte sich basierend auf vorindustriellen Gegebenheiten eine regionale Arbeitsteilung entwickelt. Beispielsweise konzentrierte sich der Maschinenbau in Sachsen oder die optische Industrie in Thüringen. Diese Arbeitsteilung wurde durch den Verlust der ehemaligen Ostgebiete und die Isolation der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR endgültig aufgehoben. _Durch die vielen Unternehmer, Ingenieure oder Facharbeiter, die durch Flucht und Vertreibung in den Westen kamen, erlebte Westdeutschland einen enormen Know-How-Transfer. Flüchtlinge und Vertriebene ersetzten als Arbeitnehmer fehlende Arbeitskräfte, siedelten als Unternehmer neue Industriezweige an und erweiterten die Produktpalette der westdeutschen Industrie.

Viele Flüchtlinge und Vertriebene kamen aber doch zunächst in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) bzw. in die spätere DDR. Profitierte daher neben dem Westen nicht auch der Osten von den Flüchtlingen und Vertriebenen?

Zunächst schon, doch das sozialistische Wirtschaftssystem verhinderte, dass der Osten langfristig von diesem neuen Potential profitieren konnte. Zunächst nahmen die Demontagen in der SBZ ein im Vergleich zum Westen viel größeres Ausmaß an, denn die Sowjetunion entnahm viele Produktionsanlagen als Reparationsleistung. Danach richtete sich die Wirtschaft der SBZ auf einen sozialistischen Markt aus. Das bedeutete die Fertigung preiswerter Massenprodukte nach Plan - nicht aufgrund der Nachfrage eines freien Marktes. Im Zuge dieser Neuausrichtung wurden die meisten Betriebe enteignet, darunter auch solche Betriebe, die nach dem Krieg von Flüchtlingen und Vertriebenen neu errichtet worden waren. _Für den Unternehmergeist, den viele Flüchtlinge und Vertriebene an den Tag legten, war nach dieser Neuausrichtung in der DDR kein Platz mehr. Das Beispiel der Ingenieure und Facharbeiter der Schott-Werke in Jena, das wir in der Ausstellung „Aufbau West“ beschrieben haben, hat dies eindrucksvoll gezeigt: Statt weiter hochwertige Waren zu produzieren, standen politische Schulungen auf dem Tagesplan. Höhere Angestellte oder Unternehmer wurden benachteiligt, etwa indem man ihren Kindern den Besuch weiterführender Schulen versagte. In diesem Klima war der Weg in den Westen für viele Fachkräfte die einzige Alternative.

Also hat hauptsächlich der Westen von Flucht und Vertreibung profitiert?

Ich weiß nicht, ob „Profitieren“ der richtige Begriff dafür ist. Dem Westen bot sich die einmalige Chance, das industrielle Erbe Ost-, Mitteldeutschlands und des Sudentenlandes zu übernehmen. Denn durch die enorme Bevölkerungsverschiebung konzentrierte sich auf der Fläche der heutigen alten Bundesländer die industrielle Tradition des gesamten Deutschen Reiches.

Stießen die Ost-Produkte denn im Westen überhaupt auf eine ausreichende Nachfrage?

Viele Ostprodukte genossen Weltruf. Der sächsische Maschinenbau, die böhmischen Glasmacher oder die schlesische Textil- und Bekleidungsindustrie, um nur einige Beispiele zu nennen, haben ihre Waren in der Vorkriegszeit nicht nur nach ganz Europa sondern in die halbe Welt exportiert. Der Krieg hat jedoch dafür gesorgt, dass die Kunden im Ausland nicht mehr beliefert werden konnten. Gerade für den mitteldeutschen Maschinenbau bestand dann im Zuge des Wiederaufbaus eine enorme Nachfrage. Unternehmen in Großbritannien oder Frankreich hatten seit vielen Jahren keine Ersatzteile mehr für ihre deutschen Maschinen erhalten. Die ursprünglichen Herstellerbetriebe dieser Maschinen befanden sich aber nun in einem geschlossenen sozialistischen Wirtschaftssystem und konnten nicht mehr liefern. Ihre Fachkräfte waren zumindest teilweise nach Westdeutschland abgewandert. Damit bot sich die Möglichkeit, diese Nachfrage aus der Bundesrepublik zu bedienen, indem man mit ostdeutschem Know-How die Produktpalette des Westens kurzerhand erweiterte. Diese Erweiterung bedeutete folglich keine Konkurrenz zur westdeutschen Produktion.

Dachte während dieser Erweiterung zur Zeit des Wirtschaftswunders überhaupt jemand an die Folgen, die sich damit nach einer Wiedervereinigung für die ostdeutschen Betriebe ergeben würden?

Ja, auch wenn diese Wiedervereinigung noch sehr fern zu sein schien. Viele Unternehmer aus den ehemaligen Ostgebieten, die sich nun im Westen angesiedelt hatten, fragten schon in den 1950er Jahren nicht ohne Sorge: Was wird die Wirtschaft des Ostens nach einer Wiedervereinigung bieten, was wir im Westen nicht haben? Sie sahen den drohenden Überkapazitäten mit Sorge entgegen, konnten aber zuversichtlich sein, dass ihre neu errichteten Werke im Vergleich zu den alten Anlagen des Ostens konkurrenzfähiger sein würden.

Was änderte sich dann 1990 mit der Wiedervereinigung?

Die ost- und westdeutsche Wirtschaft stellten sich nun gemeinsam den Herausforderungen eines globalisierten Marktes. Das war für den Westen nichts Neues, für den Osten aber eine enorme Herausforderung. Dazu kam, dass die traditionellen Ostprodukte nach 1945 auch von West-Unternehmen produziert wurden, und zwar unter marktwirtschaftlichen und damit konkurrenzfähigeren Bedingungen. Und schließlich brachen mit dem Ende der Sowjetunion auch die Absatzmärkte ostdeutscher Produkte im sozialistischen Ausland weg, da das Wirtschaftssystem des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) nicht mehr fortexistierte.