[Direkt zum Text] [Direkt zum Untermenü] [Direkt zum Hauptmenü]


[Grußwort] [Vorwort] [Einleitung] [Texte] [Künstler] [Wegeleitsystem] [Öffnungszeiten] [Anfahrt] [Kontakt]

Texte


Max J. Kobbert: Aus den Augen – in den Sinn
Wahrnehmungspsychologische Aspekte der Ausstellung "Mit Sinnen"

Seite 2

Raum

Ein blinder Referent betritt den Vortragsraum. Er schnippt ein paar Mal in verschiedenen Richtungen mit den Fingern und sagt dann, mit den Händen weisend: "Der Saal erstreckt sich in dieser Richtung ungefähr 12 Meter und ist 6 Meter breit, da drüben befindet sich eine Reihe von Fensternischen mit Vorhängen." Und als ein erstauntes Raunen durch die Reihen geht, ergänzt er: "Es sind etwa 30 bis 40 Zuhörer anwesend. Guten Tag!"

In den Anfängen der Wahrnehmungspsychologie gab es die Ansicht, Blinde könnten keine Vorstellung von einem umgebenden Raum entwickeln. Diese Meinung gründete sich darauf, dass die Reize, die der Tastsinn empfängt, mit den Grenzen des eigenen Körpers, insbesondere der Fingerspitzen, zusammenfallen.

Nicht nur, dass die Bedeutung des Gehörsinnes als Fernsinn unterschätzt wurde, auch die Tastwahrnehmung wurde als Nahsinn unterschätzt und falsch gedeutet. Der Hauptfehler bestand in dem, was der Psychologe Titchener als "Reizirrtum" bezeichnet hat: die kurzschlüssige Übertragung einer Reizeigenschaft auf die Bedeutung für die Wahrnehmung. In diesem Falle erwies sich als falsch, die Lokalisation in den Fingerspitzen mit der Lokalisation im Raum zu identifizieren.

Tastwahrnehmung kann nicht allein durch die Tastorgane erklärt werden, jenes Sortiment aus unterschiedlichen Rezeptortypen in der Haut, die u.a. für Druck, Vibration, Temperatur und Schmerz zuständig sind. Entscheidend ist ihr Zusammenwirken mit dem, was etwas unscharf als "Bewegungssinn", exakter als "Kinästhesie" bezeichnet wird. In Muskeln und Gelenken befinden sich zahlreiche Rezeptoren, die Spannung und Spannungsänderungen melden. Aus der Gesamtheit ihrer Meldungen errechnet das Gehirn die Position der Gliedmaßen im Raum, z.B. auch die Stelle, die man soeben mit den Fingerspitzen berührt.

Das Bezugssystem hierfür wird wesentlich mitbestimmt von einem weiteren Sinnesorgan, dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr. Es registriert Schwerkraft und Beschleunigungen, es ist notwendig für die Unterscheidung von eigenen und äußeren Bewegungen. Es ist das Sinnesorgan, dessen Wirkungen trotz ihrer Bedeutung kaum in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, es sei denn bei Funktionsstörungen. Wenn wir beim Drehschwindel im wahrsten Sinne die Orientierung verlieren, wird evident, welche Bedeutung das Labyrinthorgan für die Ausrichtung und Stabilität des erlebten Raumes hat.

Die Physiker beschreiben die Welt als vier- bis zwölfdimensionalen Raum, doch bleiben diese Konstrukte jenseits aller Anschauung. Dass der erlebte Raum dreidimensional ist, gehört zur angeborenen Grundausstattung jedes Menschen. Dieser Raum ist, wie schon Immanuel Kant feststellte, a priori gegeben. Er ist kein Produkt der Erfahrung, sondern er ist vielmehr Grundbedingung und Ordnungsschema f ü r jegliche Erfahrung. Alle Versuche, ihn aus Sinnesdaten heraus ableiten zu wollen, sind gescheitert. Zum Beispiel ist das Abbildungsmuster auf der Netzhaut des Auges zweidimensional, doch die visuelle Welt ist dreidimensional, Untersuchungen zufolge vom Säuglingsalter an.

Selbst das Erlebnis einer gesehenen Fläche ist immer eine Fläche v o r dem Betrachter und schließt damit die dritte Dimension notwendig ein. Seherfahrung ist keine Voraussetzung für die Dreidimensionalität des Erlebnisraumes, sondern umgekehrt ist die Dreidimensionalität des Erlebnisraumes Voraussetzung für die Strukturierung der Seherfahrungen. Darum kann man davon ausgehen, dass der Erlebnisraum des Blinden, auch des Geburtsblinden, in gleicher Weise dreidimensional ist wie der des Sehenden.

Dreidimensionalität gehört zu den intermodalen Grundstrukturen der Erfahrungswelt, das heißt, dass unterschiedliche Sinneserfahrungen darin geortet werden. Die Feinstruktur dieser Räumlichkeit, die Ausrichtung und ihr Bezug zum eigenen Körper, wird durch ein Zusammenwirken von Kinästhesie, Gleichgewichtssinn und Haptik bewerkstelligt, ferner – je nach Gegebensein zusammen mit dem Gesichtssinn und dem Gehörsinn.

Auch der Geruchssinn ist an der Raumerfahrung beteiligt. Nicht nur im Sinne der Identifizierung unterschiedlicher Örtlichkeiten – fast Jedem ist die Beobachtung vertraut, dass z.B. jede Wohnung ihren eigenen Geruch zu haben scheint. Der Geruchssinn hat im Zusammenwirken mit dem Bewegungssinn die Fähigkeit, Dichtegradienten von olfaktorischen Substanzen in der Luft und damit Richtung und Entfernung von entsprechenden Reizquellen aufzuspüren. Die Bedeutung dieser Fähigkeit ist beim Menschen zwar nicht so groß wie bei vielen Tieren, andererseits wird sie gemäß jüngeren Forschungsergebnissen zur Bedeutung von Pheromonen für sexuelle Präferenzen noch weitgehend unterschätzt.

Der visuelle Raum ist hier nicht Thema, doch sei darauf verwiesen, dass er der Einbindung in kinästhetisch-labyrinthär-haptische Lernmuster bedarf, die das Kind mit seinen sensumotorischen Interaktionen besonders in den ersten Lebensjahren erwirbt.

Das Gleiche gilt für den Hörraum. Auch er entwickelt sich intermodal. Oben, unten, rechts, links, nah und fern, eng und weit im Auditiven bekommen Bedeutung erst in Beziehung zu den Erfahrungen des eigenen Körpers, die andere Sinne vermitteln. Sie sind Voraussetzung für die Gesamtstruktur des auditiven Raums. Auf dieser Basis werden Schallquellen sehr präzise lokalisiert – ein Richtungsunterschied von zwei Grad in der Horizontalebene wird noch bemerkt, am schlechtesten wird unterschieden, ob ein Schall von vorn oder hinten kommt. Zwar kommt die Richtungsunterscheidung durch rein akustische Parameter zustande (Intensitäts- und Laufzeitunterschiede für beide Ohren), doch erst durch intermodale Verkopplungen erhalten sie ihren Orientierungsrahmen.

Eine Besonderheit des Hörraums gegenüber dem Sehraum ist, dass er den Hörenden allseitig umgibt, während das Gesichtsfeld sich auf das Vorn beschränkt. Mehrere der künstlerischen Arbeiten dieser Ausstellung nehmen auf die Totalität des Hörraumes Bezug.

Die eingangs erwähnte Fähigkeit blinder Menschen, Wände und andere Hindernisse aus der Ferne wahrzunehmen, beruht auf Hörleistungen. Es ließ sich nachweisen, dass eine "Verrechnung" von Trittschall oder anderen Schallquellen mit dem Reflexionsschall verantwortlich ist, wobei der Reflexionsschall in charakteristischer Weise Intensität und Spektrum verändert. Sogar die Blinden selbst sind sich der Modalität oft nicht bewusst. Manche meinen, sie fühlten mit der Haut die Wand näher kommen, oder machen gar einen siebten Sinn verantwortlich. Dies ist ein Beispiel dafür, dass das, was wir wahrnehmen, gelegentlich gar nicht erkennen lässt, über welchen Sinn wir es erfahren.

In der Ausstellung sind mehrere Raumsituationen gegeben, die die Sehenden unter den Besuchern möglichst mit geschlossenen Augen erfahren sollten. Sofern Bodenbelag und Schuhwerk Trittgeräusche erzeugen, werden auch die Sehenden überraschend schnell die Erfahrung machen, dass sie die Annäherung an Hindernisse spüren können. Bemerkenswert ist dabei nicht nur der Gewinn einer Orientierungsfähigkeit, die der von Fledermäusen ähnlich ist, sondern auch die Erfahrung einer neuen Erlebnisqualität, vergleichbar einer noch nie gesehenen Lichtfarbe oder einer noch nie gehörten Klangfarbe. Gelegentlich ist der Eindruck bei der Annäherung an eine Wand als "Verdichtung der Luft" umschrieben worden, doch müsste für das besondere Quale eigentlich ein neues Wort geprägt werden.

[Seite 1]  Seite 2  [Seite 3]  [Seite 4]  [Seite 5]  [Weiterführende Literatur]