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Texte


Max J. Kobbert: Aus den Augen – in den Sinn
Wahrnehmungspsychologische Aspekte der Ausstellung "Mit Sinnen"

Seite 3

Form

Wir nehmen einen kleinen Gegenstand in die Hand, etwa einen Stein oder ein Radiergummi. Nichts Besonderes für den Blinden, doch etwas Besonderes für den Sehenden. Denn wer macht sich schon bewusst, wie unterschiedlich diese Gegenstandserfahrung ist gegenüber der mit den Augen? Die Hand umschließt das Objekt. Es gibt kein wahrnehmbares Vorn und kein verborgenes Hinten, sondern das Objekt wird allseitig und in seinem ganzen Volumen simultan erfasst.

Der holländische Psychologe Geza Révész hat diese dem Haptischen eigentümliche Wahrnehmungsform "stereoplastisch" genannt.

Ganz automatisch umspielen die Finger das Objekt, um die Formeigenschaften, die Wölbungen und Vertiefungen, Ecken und Kanten zunehmend besser zu "begreifen". Bei ruhendem Griff wird die Form wesentlich ungenauer wahrgenommen. Wieder ist ein multimodales Zusammenspiel zu beobachten, hier der Tastsinne und des kinästhetischen Sinnes.

Die Objekte in der Ausstellung sind größer, nicht so "handlich". Um sie zu erfassen, ohne sie sehen zu können, müssen sie sukzessive mit den Händen erforscht werden. Der kinästhetische Anteil in der Erfassung und der Zeitbedarf für die Erkundung wachsen. Dabei ändert sich auch die Art und Weise, in der das Objekt bewusst erlebt wird.

Ist die Erfassung in großen Zügen innerhalb der "psychischen Präsenzzeit" möglich, dann bildet das Objekt eine Wahrnehmungseinheit, ein simultanes Ganzes. Es entspricht einem Gegenstand im oben genannten Primärmodell, d.h. einem Wahrnehmungsinhalt. Die psychische Präsenzzeit bezeichnet das, was als Gegenwart erlebt wird; sie ist kein ausdehnungsloser Zeitpunkt, sondern erstreckt sich über 2 bis 3 Sekunden.

Objekte, die zu groß sind, als dass sie innerhalb der Präsenzzeit erfasst werden können, bedürfen einer mentalen Repräsentation unter Zuhilfenahme des Kurzzeitgedächtnisses und nehmen dann den Charakter von Vorstellungen an.

Blinde sind in der Schaffung solcher Sekundärmodelle den Sehenden überlegen. Bei Sehenden, übrigens auch bei vielen Künstlern, bleiben vorgestellte Objekte relativ schematisch oder ungenau, während sie bei manchen Blinden eine Differenziertheit und Präzision haben können, die der von Wahrnehmungsinhalten nahe kommt.

Sehende sind immer wieder über die erwiesene Gedächtnisleistung von Blinden erstaunt, und das zu Recht. Andererseits ist anzumerken, dass die mindere Gedächtnisleistung für Sehende ein Segen ist. Denn sie wären völlig überfordert, wenn sie den großen Strom visueller Informationen, der Sekunde für Sekunde auf sie einströmt, speichern würden, ohne ihn sinnvoll zu reduzieren. Unwichtiges vergessen zu können ist ebenso entscheidend wie Wichtiges behalten zu können. Dies ist übrigens ein Kernproblem in der sprichwörtlichen Reizüberflutung unserer Zeit.

Der erwähnte Geza Révész, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wie kein Anderer die haptische Wahrnehmung untersucht hat, kam zu dem Schluss, dass Blinde zu einer eigentlichen Formwahrnehmung nicht imstande seien. Er schloss dies daraus, dass haptische Wahrnehmung sukzessiv erfolgt und daher Form als ein Simultan-Ganzes nicht zustande kommen kann.

Dem ist zu entgegnen, dass für in der Präsenzzeit ertastete Objekte dieser Einwand nicht zutrifft. Und bei größeren Objekten ist zu berücksichtigen, dass das Vorstellungsbild, das Blinde von einem Objekt erschaffen, in seiner Genauigkeit gesehenen Wahrnehmungsgegenständen nahe kommen kann.

Es soll hier nicht jenem Euphemismus gefolgt werden, der heutzutage bei Behinderungen gelegentlich gepflegt wird und letztendlich, da er tatsächlich bestehende Probleme nur verschleiert, niemandem hilft. Und so kann auch nicht darüber hinweg gesehen werden, dass die haptisch-kinästhetische (kurz: haptokinetische) Wahrnehmung von Objekten, z. B. in der Erfassung von Proportionen, schlechter abschneidet als die visuelle Wahrnehmung. Das hindert aber nicht daran, dass sehr wohl Formen als Ganzheit geschaffen werden können.

An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die Idee einer objektiv bestehenden (künstlerischen) Form, die die Wahrnehmung einfach aufnimmt, dem naiven Realismus entspricht, der wissenschaftlich längst überwunden ist. Jeder Beobachter muss eine Form durch seine Wahrnehmung auf der Grundlage der Sinnesreize neu schaffen, und das Ergebnis fällt stets unterschiedlich aus je nach biologischen, kulturellen und individualgeschichtlichen Voraussetzungen.

Dass beim wahrnehmenden Subjekt der Eindruck von bloßem "Antreffen" von etwas objektiv Gegebenem besteht, gehört zum Charakter der Wahrnehmungswelt und ändert nichts an ihrer grundsätzlichen Subjektivität und Konstruktivität. Insofern besteht zwischen einer visuell und einer haptokinetisch wahrgenommenen Form nur ein gradueller, aber kein prinzipieller Unterschied.

Für den Sehenden ist es eine wichtige Erfahrung, die Form von Objekten rein haptokinetisch zu erfassen, die er sich in dieser Ausstellung nicht entgehen lassen sollte. Anstelle des simultanen Erscheinens einer perspektivischen Ansicht tritt sukzessives Erforschen. Für Manchen wird dabei vielleicht zum ersten Male Wahrnehmung als kreativer Akt bewusst. Es wird zum Wahr-Nehmen im wahrsten Sinne des Wortes, begleitet von gelegentlichen Irrtümern.

Das sukzessive Erforschen verläuft stets unter mehr oder weniger bewusster Antizipation des Noch-nicht-Ertasteten, und jede Ecke und Kante, jeder abweichende Verlauf der Konturen und Oberflächen ist eine Korrektur des ungefähren Konzepts vom Ganzen, das sich bald nach Beginn des Tastvorgangs als hypothetischer Plan einstellt. Es stellen sich Vermutungen ein, entweder im Sinne der Generalisierung bereits untersuchter Eigenschaften oder im Sinne eines bereits bekannten Schemas, und führen die Hand. Zur Falschnehmung kann es kommen, wenn das Objekt vorzeitig freigegeben wird, bevor es all seine Überraschungen preisgegeben hat, und die Vermutung vorschnell zur Gewissheit wird.

Man achte als Sehender darauf, wie Kanten und Oberflächen – dem Tastvorgang entsprechend – besonders in ihrer Verlaufsgestalt wahrgenommen werden, als fließende, schwingende und gebrochene Übergänge, ganz im Gegensatz zu den visuell vorherrschenden Simultangestalten, wo statische Beziehungen vorherrschen. Die Eigenbewegung lässt die Form entstehen, und die Form gestaltet die Eigenbewegung – ein Wechselspiel, bei dem das Kunstwerk und seine Rezeption inniger verflochten werden als bei jeder anderen Form von Wahrnehmung.

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