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Texte


Max J. Kobbert: Aus den Augen – in den Sinn
Wahrnehmungspsychologische Aspekte der Ausstellung "Mit Sinnen"

Seite 5

Multimodale ästhetische Qualitäten

Die Frage nach dem Geheimnis der Schönheit wird eben so oft gestellt, wie die Antworten darauf verworfen werden. "Was die schonheit sey, das weiß ich nit", war schon Albrecht Dürers Erkenntnis nach jahrelangen Proportionsstudien.

Die Griechen suchten in den Ordnungen der Mathematik nach einem absoluten Maßstab des Schönen. Der schon erwähnte Beginn der empirischen Psychologie war verbunden mit der Frage G. Th. Fechners nach den Grundlagen des ästhetischen Wohlgefallens, man suchte im Menschen selbst nach interindividuell gültigen Gesetzen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war es die Informationstheorie, die wiederum objektive Kriterien zu formulieren suchte und letztlich an der Subjektivität der Wahrnehmung scheiterte. Nicht zuletzt kam Widerstand aus der Kunst, weil jeder Versuch, allgemeine ästhetische Prinzipien aufzustellen, als potentielle Beschneidung künstlerischer Freiheit und Selbstbestimmung verdächtigt wird, vor allem dann, wenn solche Versuche nicht aus der Kunst selbst heraus entwickelt werden.

Im Folgenden soll nicht der von vornherein verfehlte Versuch gemacht werden, dem Künstler hineinreden zu wollen. Es soll um die Ästhetik des Rezipienten gehen, um die Kunst der Wahrnehmung. Vor allem soll es um den Umgang mit Kunstwerken gehen, die – wie in dieser Ausstellung – vor allem die sinnliche Erfahrung außerhalb des Visuellen ansprechen. Erfahrungen des Verfassers bei vielen Gelegenheiten mit sehenden und blinden Rezipienten legen einen solchen Versuch als Fortsetzung zahlreicher Gespräche nahe.

Eine der häufigsten Fragen, die Laien vor Kunstwerken stellen, lautet: "Was soll das darstellen?" Und schon geht es dem Rezipienten ähnlich wie dem Wissenschaftler, der keine Antwort findet dann, wenn die Frage falsch gestellt ist. Psychologisch ist sie gut zu verstehen. Die Frage liegt insofern nahe, als Bildwerke natürlich oft figürlich sind und insofern etwas "darstellen", doch hat bloße Wiedergabe als solche weder heute noch in der Vergangenheit das Wesentliche künstlerischer Tätigkeit ausgemacht.

Der Umstand, dass der Betrachter am unmittelbarsten angesprochen wird durch etwas, in dem er Vertrautes wiedererkennt, kann zu der Meinung verführen, es damit auch schon im Wesentlichen begriffen zu haben. Diese Verführung ist umso größer, als auch der Laie oft ohne Schwierigkeit den Grad der Übereinstimmung mit dem Vorbild erkennen kann und damit ein Beurteilungskriterium für das Gelingen zu haben glaubt.

Kunstwerke sind aber Objekte und Ereignisse von einer Bedeutung, die hauptsächlich in ihnen selbst zu suchen ist. Sie stellen eine Bereicherung für die Erfahrung dar, die demjenigen entgeht, der nur auf das bereits Bekannte anspricht.

Kunstwerke arbeiten mit Bekanntem, natürlich, denn Künstler sind keine Demiurgen, die etwas aus dem Nichts erschaffen. Sie arbeiten mit gegebenen Rohmaterialien, Halbfabrikaten und gelegentlich sogar mit Fertigprodukten.

Kunstwerke sind aber neu in dem Sinne, als sie neue Beziehungen stiften, Strukturen, Vernetzungen. Wir haben oben gesehen, dass sich schon in dem Zusammenspiel verschiedener Sinne Komplexqualitäten ergeben können, die aus den Einzelkomponenten nicht abzuleiten sind. Umso mehr gilt dies für die Wirkungen eines Kunstwerks, die als emergente Qualitäten aus den vom Künstler geschaffenen Ordnungen hervorgehen können, wenn einerseits das Werk gelungen und andererseits die Wahrnehmung des Rezipienten entsprechend eingestellt ist.

Es ist daher für den Rezipienten eine mögliche Strategie, dass er bei der Erkundung eines Kunstwerks Beziehungen zwischen seinen Teilen und Aspekten herzustellen sucht. Solche Beziehungen können von räumlicher, zeitlicher und semantischer Art sein und schließen zudem eine besondere Form der Selbsterfahrung ein. Auf diese Beziehungsarten sei im Einzelnen kurz eingegangen.

Für den Blinden gehört es zur Alltagspraxis, für den Sehenden ist es dagegen eine schwierige Herausforderung, räumliche Beziehungen haptokinetisch zu erfassen. Aber auch für den Blinden ist es oft ungewohnt, über die Identifizierung eines Objekts hinaus zu erforschen, welche Art von Ordnung oder Komposition der Künstler geschaffen hat.

Für den Sehenden besonders eigentümlich wird die Erfahrung sein, mit beiden Händen gleichzeitig gegenüberliegende Oberflächen eines Objekts bewusst zu erfassen, weil seine visuell geprägte Wahrnehmungsweise gewohnt ist, jeweils nur eine Ansicht zu realisieren. Die Aufmerksamkeit widmet sich vielleicht erstmalig dem Verhältnis von vorn und hinten, Gemeinsamkeiten oder Unterschieden in Lage, Form und Materialbeschaffenheit.

Die beidhändige Erkundung ist auch für andere räumliche Relationen sinnvoll, nicht nur, weil beide Hände mehr erfassen, sondern auch wegen einer spezifischen Aufgabenteilung. Etwa kann die eine Hand auf einem bereits erforschten Bereich als Anker und Bezugspunkt ruhen, während die zweite Hand andere Teile des Gegenstandes ertastet.

So erschließen sich etwa das Verhältnis von Flächen und Körpern in ihrer Größe und Lage, von Horizontalen und Vertikalen, von rechtwinkligen und schiefwinkligen Anordnungen. Es kann das Verhältnis von Innen und Außen, das sich visuell nur unbefriedigend erfahren lässt, neu realisiert werden. Entsprechungen, Unterschiede, Reihungen, Symmetrien und Asymmetrien stellen sich dar.

Man erwarte nicht unbedingt immer Schönheit im Sinne von Ausgewogenheit, Harmonie und Gleichmaß der Teile im Ganzen. Schönheit verwirklicht nach heutigem Verständnis lediglich einen Teil möglicher ästhetischer Qualitäten. Geschaffene Ordnungen können sich in unterschiedlichsten Gestaltqualitäten zeigen, worunter das ausgeglichen Harmonische nur einen Sonderplatz neben anderen Verhältnissen hat, etwa dem Dissonanten, dem Gegensatz, dem Komplementären.

Neuartige Wirkungen können auch durch die Verbindung haptisch-kinästhetischer Raumerfahrungen einerseits und auditiver Raumerfahrungen andererseits gewonnen werden, wenn der Künstler die entsprechenden Medien in ungewohnter Weise kombiniert hat. Der Rezipient schafft sich durch seine Bewegung - gleichzeitig durch beide Räume - eine neue Qualität von Gesamtraum.

Dass musikalische Strukturen großenteils zeitlicher Art sind, versteht sich von selbst. Aber auch haptokinetisch erfahrene Ordnungen sind großenteils zeitlicher, besser raumzeitlicher Art, und zwar durch die ertastete Form als Verlaufsform. Ebene und gewellte Oberflächen, gerade und gekrümmte Kanten erschließen sich nicht nur über die Bewegung, sondern bewahren die zeitliche Komponente des Nacheinander. Denn jeder Teilverlauf wird als Fortsetzung bzw. als Veränderung des unmittelbar vorhergehenden wahrgenommen, wodurch sich der Gesamtverlauf als kontinuierlicher Strom von Beziehungen ergibt.

Für das ästhetische Erleben musikalischer Verläufe ist neben dem Erlebnis der Kontinuität der Wechsel bedeutsam, neben der Erfüllung von Erwartungen deren Enttäuschung. Analog hierzu können haptokinetische Verlaufsformen sich kontinuierlich fortsetzen, entwickeln, steigen, fallen, an- und abschwellen, die Richtung wechseln, ausklingen oder brechen.

Für Künstler ist es nicht ungewöhnlich, wenn sie die dynamischen Verhältnisse in ihren Werken mit Termini beschreiben, die sonst für das Verhalten von Lebewesen verwendet werden, und tatsächlich hat unsere Sprache auch keine besseren Umschreibungen hierfür. Es beginnt schon damit, dass eine Linie "verläuft", sich hier und dort hin "bewegt", dass Flächen und Formen aufeinander stoßen, sich wölben, sich berühren, sich vereinen und trennen. Da prallt etwas aufeinander, reibt sich, rivalisiert, verdrängt und dominiert, dehnt sich aus und löst sich auf.

Die Nähe solcher Wortwahl zum Ausdrucksbeschreibungen kommt nicht von ungefähr. Gefühle sind als E-motionen im Wesentlichen dynamischer Art. Es ist daher verständlich, dass z.B. weiche Wellenverläufe als sanft, schartige Kanten und harte Spitzen dagegen als aggressiv empfunden werden.

Ein Kunstwerk erschöpft sich, wie gesagt, niemals in der bloßen Wiedergabe eines vorhandenen Objekts. Doch kann das Beziehungsgeflecht, das ein Kunstwerk aufspannt, natürlich auch semantische Beziehungen zur außerhalb des Bildwerks liegenden Realität enthalten.

Solche Bedeutungsbeziehungen können z.T. offensichtlich, z.T. aber auch sublim und verhüllt sein. Bei einer figürlichen Darstellung besteht diese Beziehung darin, dass der Künstler ihm wesentliche formale Eigenschaften des Gegenstands in Eigenschaften des Bildwerks umsetzt.

Es können aber auch andere als die formalen Eigenschaften zum Ausgangspunkt gemacht werden, z.B. der Charakter eines Menschen, die Atmosphäre einer Landschaft, die Dynamik eines emotionsgeladenen Erlebnisses. Für den Rezipienten ist es eine interessante Aufgabe zu entdecken, wie es dem Künstler gelungen ist, Inhalte dieser Art in Form zu verwandeln.

Oft arbeiten Künstler mit impliziten Verweisen auf außerbildliche Gegenstände, die als solche kaum oder gar nicht bewusst werden. Wenn ein Bildwerk z.B. ungewohnte Verformungen des menschlichen Körpers zeigt, dann werden diese erst dadurch wirksam, dass der Rezipient einen Bezug zu etwas herstellt, das ihm vertraut ist und in seinem Formgedächtnis als Grundschema besteht.

Solche außerbildlichen Referenzen gehen nicht selten über die sinnliche Erfahrung hinaus und betreffen gesellschaftliche Verhältnisse, künstlerische oder philosophische Konzepte, die interpretiert, reflektiert oder ironisiert werden. Dies weiter auszuführen, würde allerdings den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes sprengen.

Ein Aspekt von Beziehungen, die mit multimodal wirkenden Kunstwerken wie denen dieser Ausstellung eröffnet werden, ist jedoch last not least anzusprechen. Es ist die besondere Form der Selbsterfahrung, die sich mit der thematisierten Art der Rezeption verbindet.

Schon um 1770 meinte Johann Gottfried Herder, dass es das Gefühl sei, das die verschiedensten Sinneserfahrungen miteinander verbindet.

Gefühle sind mehr als nur intermodale Qualitäten, denn sie betreffen das Welterleben und das Selbstbefinden insgesamt, und der Neurologe Antonio Damasio ersetzt das alte kartesische "ich denke, also bin ich" neuerdings durch "ich fühle, also bin ich".

Nicht von ungefähr ist "Gefühl" eine Bezeichnung in Doppelbedeutung, die einerseits die subjektive Seite der Emotionen meint und andererseits den Komplex der Hautsinne. Was ich berühre, berührt mich. Gänsehaut. Was ich mit den Hautsinnen spüre, geht oft unter die Haut.

Der Gesichtssinn ist der prägnanteste Fernsinn. Alles Gesehene bleibt in Distanz, in der Distanz der klassischen Ästhetik. Gehörtes rückt näher, manche Klänge werden sogar im Kopf selbst lokalisiert.

Den intensivsten Nahsinn bilden die Hautsinne. Die Kontaktzone von Körper und Welt, zwei Quadratmeter groß, konzentriert sich hinsichtlich Rezeptorendichte und Aufmerksamkeitsverteilung auf wenige kleine Partien der Körperoberfläche wie z. B. die Fingerbeeren.

Dass Sinnlichkeit oft mit den Hautsinnen identifiziert wird, ist nicht als Oberflächlichkeit des Sprachgebrauchs abzutun, sondern spiegelt das Maß, in dem die Hautempfindungen das Ich involvieren.

Jeder simple Tastvorgang, dieses Zusammenspiel von Haptik und Kinästhetik, ist von eigenartiger Doppelnatur. Ich ertaste eine Bleistiftspitze, und gleichzeitig spüre ich, wie mein Finger berührt wird. Entweder kann ich mich ganz auf den Gegenstand konzentrieren – dann objektiviere ich – oder ich stelle meine Aufmerksamkeit um und konzentriere mich darauf, wie meine Fingerspitze tangiert wird – dann somatisiere ich.

Aber selbst dann, wenn die Aufmerksamkeit nicht auf das eigenkörperliche Erleben fokussiert ist, wirkt die somatische Seite der Rezeption untergründig auf das Selbsterleben ein. Das erlebte eigene Körperbild ist nämlich nicht per se gegeben, sondern es bildet sich im Laufe des Lebens ebenso wie das Primärmodell der umgebenden Wirklichkeit. Nichts ist selbst-verständlich, nicht einmal das eigene Ich.

Die gleichen Sinnesorgane, die die haptokinetischen Eigenschaften der Außenwelt vermitteln, vermitteln ebenso die Präsenz und die Ausdehnung des eigenen Körpers in allen seinen Teilen. Ich erfahre meine Reichweite, Schrittweite, alle Bewegungsmöglichkeiten und letztlich das gesamte Potential meiner realen Handlungsoptionen wesentlich auf haptischem und kinästhetischem Wege. Indem ich die Welt erkunde, bilde ich mein Körper-Ich. Indem ich etwas fühle, erlebe ich mich selbst als fühlendes Wesen.

Kunstwerke, die über die visuelle Erfahrung hinaus auch die anderen Sinnesfelder ansprechen, beziehen den Rezipienten in besonderer Weise in ihr Beziehungsgeflecht ein.

Kunst macht Wahrnehmung bewusst. Sie führt zu einer tief greifenden Reflexion des Selbst- und Weltverständnisses, die der Alltag nicht vorsieht. "Mit Sinnen" ist eine sinnvolle Ausstellung in vielfachem Sinne.

Februar 2003

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