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Texte


Max J. Kobbert: Aus den Augen – in den Sinn
Wahrnehmungspsychologische Aspekte der Ausstellung "Mit Sinnen"

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Emergente und intermodale Qualitäten

Eines der durchgängigen Themen der Kunst ist bei allem Wandel das Verhältnis von Wirklichkeit und Schein. Auch bei den Irritationen, mit denen diese Ausstellung den Besucher konfrontiert, ist es allgegenwärtig. Geräusche, bei denen die Frage nach Echtheit oder Künstlichkeit in der Schwebe bleibt, Installationen und Ereignisse, die sich allen vertrauten Kategorien entziehen, kontrastieren mit der Realität angetroffener Dinge.

Doch was macht "Realität" als solche evident? Wodurch erkennen wir, oder meinen zumindest zu erkennen, was real ist?

Diese alte erkenntnistheoretische Frage hat der Psychiater und Philosoph Jaspers damit beantwortet, dass uns das real erscheint, was uns Widerstand entgegensetzt. Das unterscheidet die Dinge etwa des Traums und der Vorstellung von denen, die uns im Wachbewusstsein begegnen. Und die konkrete Widerständigkeit der Objekte erfahren wir nicht anders als durch ein Zusammenwirken von Kinästhesie und Tastsinn. Die Widerständigkeit der Dinge ist die bedeutsamste haptokinetische Qualität für unser Wirklichkeitserleben.

Die Chaos- und Systemtheorien der letzten Jahre haben in ihrem Beitrag zum Verständnis von Kreativität den Begriff "Emergenz" geprägt. Mit emergenten Eigenschaften sind solche gemeint, die aus komplexen Systemen hervorgehen und sich nicht aus den Eigenschaften der Bestandteile ableiten lassen.

Die Gestaltpsychologie hat solche Eigenschaften vor Jahrzehnten als Komplexqualitäten bezeichnet und als typische Beispiele hierfür Eigenschaften benannt, die aus dem Zusammenspiel verschiedener Sinne hervorgehen. Die haptokinetischen Qualitäten sind prägnante Beispiele hierfür.

Außer der Widerständigkeit der Dinge sind es die damit verwandten Eigenschaften "hart" und "weich". Auch "schwer" und "leicht", "rau", "glatt", "klebrig" und viele andere Materialqualitäten kommen durch spezifische Formen des Zusammenspiels zwischen Tastsinn und Bewegungssinn zustande. Die Haut enthält einen Komplex zahlreicher Einzelmodalitäten, aber merkwürdigerweise keinen Rezeptor für Nässe und Trockenheit. "Feuchtigkeit" ergibt sich bei spezifischer Simultanreizung von Berührungs- und Kältereizen, "Trockenheit" einer Oberfläche ist eine haptokinetische Komplexqualität, "Hitze" entsteht bei Simultanreizung von Wärme- und Kälterezeptoren.

Um auch den gustatorischen Sinn anzusprechen: Die Schärfe von Gewürzen ergibt sich als Komplexqualität bei der Reizung von Geschmacksrezeptoren und schmerzempfindlichen Nervenendigungen. Die unendliche Vielfalt von Geschmäcken besteht in Komplexqualitäten, die sich bei unterschiedlicher Kombination von nur vier oder fünf primären Geschmacksreizen ergibt, in Verbindung mit einer Vielzahl von Geruchsstoffen. (Übrigens besteht auch das Farbensehen mit seinen 1,5 Millionen unterscheidbaren Farben auf der unterschiedlich dosierten Reizung von lediglich drei verschiedenen Rezeptortypen im Auge).

Von den emergenten Komplexqualitäten zu unterscheiden sind die intermodalen Qualitäten. Während Komplexqualitäten im Zusammenwirken unterschiedlicher Sinne gebildet werden, sind intermodale Qualitäten solche, die unterschiedliche Sinne gemeinsam haben.

Die spektakulärsten Beispiele sind die Synästhesien. Es gibt Menschen, die beim Sehen von Farben zusätzlich Klangerlebnisse haben und ebenfalls solche, die beim Hören von Klängen Farberlebnisse haben. Diese Zuordnungen sind individuell verschieden, aber sehr konstant und über Jahre beständig.

Zum Verständnis solcher Phänomene ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Art der erlebten Qualitäten letztlich nicht vom jeweiligen Reiz bestimmt wird, sondern von der zentralnervösen Einheit im Cortex, in dem die Reize verarbeitet werden. So entsprechen bestimmte Ereignisse im Occipitallappen visuellen Erlebnissen, und solche im Temporallappen Hörerlebnissen. Erregungsverläufe im Gehirn bahnen sich individualgeschichtlich jeweils etwas anders, und so ist es möglich, dass manche Verläufe, die z.B. primär in die Hörrinde münden, z.T. auch in die Sehrinde zweigen und so Farberscheinungen erzeugen können.

Eine vergleichbare Miterregung gibt es z.B. bei manchen Formen von Migräne, bei denen ein Erregungsherd sowohl auf das Schmerzzentrum streut als auch auf das visuelle Zentrum, wo es dann zur Erscheinung farbiger Zackenränder kommt.

Synästhesien kommen bei Kindern häufiger vor als bei Erwachsenen. Dies lässt sich mit der begründeten Annahme erklären, dass im Laufe der Individualentwicklung die Differenzierung der Sinne zunimmt. Zwischen Geschmack und Geruch bleibt die Differenzierung bei den meisten Menschen lebenslang unscharf.

Die frühesten wissenschaftlichen Berichte über Synästhesien betrafen einen Blinden. Der englische Augenarzt John T. Woolhouse berichtete Anfang des 18. Jh. über einen blinden Deutschen, der mit dem Tastsinn angeblich Farben unterschied und mit Klangempfindungen bezeichnete. Spätere Untersuchungen zum "Farbentasten" haben allerdings keine Bestätigung dafür ergeben, dass es eine Fähigkeit zur taktilen Unterscheidung verschiedener Wellenlängen gibt. Dies schließt aber nicht aus, dass ein Späterblindeter taktile Qualitäten synästhetisch als Farben empfinden kann.

Manche Blinde berichten von intensiven Farberscheinungen, die keine Beziehung zu optischen Außenreizen haben und als ausgesprochen störend empfunden werden. Solche Erscheinungen sind allerdings nur von Späterblindeten berichtet worden, denen Vergleiche mit Farberlebnissen, die sie vor der Erblindung gehabt haben, möglich sind.

Untersuchungen an Geburtsblinden haben ergeben, dass die Hirnzentren, die bei Sehenden visuelle Funktionen haben, Aufgaben des Hörens und Tastens erfüllen. Ob die damit verbundenen Erlebnisse visuellen Farberlebnissen verwandt sind, ist eine interessante Frage, die sich allerdings nicht beantworten lässt, weil die Betroffenen keine Vergleichsmöglichkeit mit dem reinen Seherlebnis haben und weil, wie bereits oben ausgeführt, Quale selbst verbal nicht kommunizierbar sind.

Die Situation ist anders bei den intermodalen Qualitäten, die von den meisten Menschen geteilt werden und für die die Sprache klare Bezeichnungen bereithält. Sie sind intermodal in dem Sinne, dass sie nicht spezifisch für nur eine Sinnesmodalität gelten, sondern mehreren gemeinsam ist.

Eine solche Qualität ist "Intensität" oder "Stärke". Sowohl ein Licht, ein Ton, ein Schmerz, ein Druck, ein Geschmack oder ein Geruch können unterschiedliche Grade von Intensität haben.

Intensität ist ein Begriff, der wegen seiner Abstraktheit zugleich allgemeinverständlich und kommunikabel ist. Und er gestattet auch, mit Eigenschaften, die sich der unmittelbaren Sinneserfahrung entziehen, gedanklich zu operieren. Die Psychologie als empirische Wissenschaft begann als Psychophysik, die physikalische Intensitäten mit empfundenen Intensitäten in Beziehung brachte. Dabei stellte sich z.B. heraus, dass einer linearen Steigerung der Intensitätsempfindung eine logarithmische Steigerung der physikalischen Reize entspricht, und zwar für ganz verschiedene Sinnesbereiche wie z.B. für Lichthelligkeit und Klangstärke. Mit dieser recht theoretisch anmutenden Beziehung hängt die praktische Fähigkeit unserer Sinnessysteme zusammen, sowohl im Bereich sehr schwacher als auch sehr starker Reize gleich gut unterscheiden zu können.

Ebenfalls intermodal sind Eigenschaften, die strukturelle und dynamische Beziehungen von Intensitäten beschreiben. Viele Bezeichnungen, die dem Musiker geläufig sind, lassen sich ebenso gut auf andere Sinnesbereiche, z.B. auf visuelle und haptokinetische Abläufe anwenden, auch wenn es nicht üblich ist, etwa: crescendo, decrescendo, staccato, legato, accelerando, ritardando.

Weitere intermodale Qualitäten sind "Helligkeit" und "Dunkelheit". Es gibt helle und dunkle Farben, helle und dunkle Klänge und helle und dunkle Gerüche. Durch raffinierte Zuordnungsversuche hat man herausgefunden, dass diese Entsprechungen nicht Kunstprodukte sprachlicher Konventionen sind, sondern tatsächlich einem "gemeinsamen Dritten" ganz verschiedener Sinnesmodalitäten entsprechen.

Weitere solcher intermodaler Qualitäten, die auf unterschiedliche Gruppen von Sinnesmodalitäten zutreffen, sind z.B. "stechend", "dumpf", "scharf", "stumpf", "rau" und "glatt".

Eine Sonderrolle spielen die Qualitäten "warm" und kalt", die ihren primären Ursprung in der Reizung der Wärme- und Kälterezeptoren der Haut haben. Sie werden von den meisten sehenden Menschen als Mitempfindung bei Farben beschrieben, und zwar regelmäßig einerseits zusammen mit Rot und Orange, andererseits mit Blau und Grün. Darauf, dass es sich nicht um eine willkürliche, erlernte Zuschreibung, sondern eine echte Synästhesie handelt, weist der Befund, dass ein Zimmer, dessen Beleuchtung langsam von schwach rötlich nach schwach bläulich verändert wird, als kühler werdend beschrieben wird, bevor die Änderung des Farbtons bemerkt wird.

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