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Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität

Björn Zech

Das im Jahr 2004 gegründete Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität ist ein Gegenentwurf der damaligen rot-grünen Bundesregierung zum vom Bund der Vertriebenen geplanten Zentrum gegen Vertreibungen .  Das Netzwerk sollte die Vertreibungen des 20. Jahrhunderts auf einer europäischen Ebene erforschen und dokumentieren und vor allem die jeweiligen nationalen Verengungen des Blickfelds überwinden.

Schon 1999 hatten sich die Staatsoberhäupter Deutschlands und Polens in ihrer Danziger Erklärung darauf verständigt, die Beziehungen beider Länder im Geist der Versöhnung und ohne eine gegenseitige Aufrechnung von Schuld auszubauen.  Als der Bund der Vertriebenen im Jahr 2000 die Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen   ins Leben rief, befürchteten viele Kritiker eine nachhaltige Verschlechterung des deutsch-polnischen Verhältnisses durch eine wieder zu einseitige, nationale Darstellung des Phänomens Vertreibung. Es entbrannte eine heftige Debatte über die Frage, wie in Zukunft der Vertreibungen der Deutschen gedacht werden sollte.

Der deutsche Bundestag lehnte im Jahr 2002 eine öffentliche Unterstützung des Zentrums-Projektes ab und beschloss, einen Dialog mit den europäischen Nachbarn darüber anzuregen, wie eine gemeinsame Auseinandersetzung mit den Vertreibungen aussehen könnte. Daran anlehnend initiierte der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel einen Aufruf, die Geschichte der Vertreibungen in Europa gemeinsam mit den Nachbarländern aufzuarbeiten, dem sich 120 ostmitteleuropäische und deutsche Politiker und Intellektuelle anschlossen. Als kurz darauf die Staatsoberhäupter Deutschlands und Polens erneut in Danzig zusammentrafen, sprachen auch sie sich in einer gemeinsamen Erklärung für eine europäische Aufarbeitung und damit indirekt, aber deutlich gegen das vom Bund der Vertriebenen geplante Zentrum gegen Vertreibungen   aus.

Weitere Staaten wurden einbezogen, als die polnische Regierung die Kulturminister aus Ungarn, Österreich, Tschechien, der Slowakei und Deutschland im April 2004 in den Warschauer Königspalast zur ersten internationalen Konferenz zum Thema Vertreibungen seit 1945 einlud. Dort beschlossen die Minister die Gründung der gemeinschaftlich zu finanzierenden Stiftung „Europäisches Netzwerk Zwangsmigration und Vertreibung“. Die Stiftung nach polnischem Recht mit Sitz in Warschau sollte Museen, Archive, Denkmäler und Forschungsstätten in ganz Europa miteinander verbinden und die gemeinsame Erforschung der Vertreibungen ermöglichen. BdV-Präsidentin Erika Steinbach erklärte nach der Gründung, das geplante Zentrum gegen Vertreibungen zu einem der Standorte des Netzwerkes machen zu wollen, obwohl das Netzwerk eigentlich als Gegenmodell zum Zentrum ins Leben gerufen  worden war.

Kritik

Bereits kurz nach seiner Gründung sah sich das Netzwerk umfassender Kritik ausgesetzt:

Der Generalsekretär der Göttinger „Gesellschaft für bedrohte Völker“, einer Menschenrechtsorganisation, die auch die Vereinten Nationen und den Europarat berät, lehnte die Europäisierung der Vertreibungsdebatte durch das Netzwerk ab, solange die tschechische Regierung an den Benes-Dekreten festhielte.1 Teile der Linken sahen im Netzwerk eine Einrichtung zur Vertuschung revanchistischer deutscher Ziele.

Das Auswärtige Amt protestierte beim Bundeskanzleramt dagegen, dass Kulturstaatsministerin Weiss ohne jede Absprache Außenpolitik mache und womöglich völkerrechtliche Verpflichtungen für Deutschland eingehe, für die sie keine Zeichnungsvollmacht besäße.2 Die Gründungserklärung des Netzwerkes regele daher gar nichts und sei kein bindender völkerrechtlicher Vertrag.

Schließlich distanzierte sich auch die polnische Regierung, die sich an dem Wort „Vertreibung“ im Titel stieß: Nach offiziellem Sprachgebrauch gab es in Polen keine Vertreibungen, sondern lediglich Umsiedlungen, daher müsse die Stiftung in „Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ umbenannt werden.

Die Arbeit des Netzwerkes

Im September 2005 erklärte Kulturstaatsministerin Weiss, dass das Netzwerk mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet sei und seine Tätigkeit aufgenommen habe.3  Erste konkrete Projekte, vor allem Ausstellungen und Publikationen, waren bereits geplant. Doch kurze Zeit später fanden sowohl in Deutschland als auch in Polen Wahlen und Regierungswechsel statt, die sich direkt auf die Arbeit des Netzwerks auswirkten.

In Deutschland einigten sich die Parteien der neuen Regierung im Koalitionsvertrag zwar darauf, ein sichtbares Zeichen zur Erinnerung an die Vertreibungen setzen zu wollen. Allerdings blieb die entsprechende Formulierung im Vertrag so vage und offen, dass jede Partei sie für ihre Interessen interpretieren konnte:  In der SPD versteht man darunter die Arbeit innerhalb des Netzwerkes, in der CDU eine Unterstützung für das Zentrum gegen Vertreibungen Nach Einschätzung des Historikers Hans Mommsen „wird es Ärger in der Koalition geben“, wenn diese Vorstellungen zukünftig aufeinander treffen. 4

Die neue polnische Regierung wiederum will die Arbeit des Netzwerks nur dann fortführen, wenn die deutsche Regierung dass in Berlin geplante Zentrum gegen Vertreibungen verhindert. Dazu fehlen der Bundesregierung jedoch zum einen die rechtlichen Möglichkeiten, da das Zentrum gegen Vertreibungen eine unabhängige private Stiftung ist. Zum anderen hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mehrfach öffentlich für das Zentrum gegen Vertreibungen stark gemacht. Aufgrund der politischen Querelen und mangelnder Unterstützung auf deutscher und polnischer Seite ist es bisher bei der Absichtserklärung geblieben: Das Netzwerk hat bis heute die Arbeit nicht aufgenommen und existiert faktisch nur auf dem Papier seiner Gründungsurkunde.

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Fußnoten

  1. Tageszeitung vom 22.09.2003, Seite 7
  2. Süddeutsche Zeitung vom 02.02.2005 Seite 1
  3. Tageszeitung vom 10.09.2005, Seite 17 und Süddeutsche Zeitung vom 16.09.2005, Seite 9
  4. Süddeutsche Zeitung vom 01.02.2006, Seite 2

 

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