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Texte


Nicola Kochhafen:
Die unmittelbare Sprache der Kunst und ihre Wurzeln im 20. Jahrhundert

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Von den Neuen Realisten erfährt das Readymade 1960 eine sehr konsequente Neuinterpretation. Daniel Spoerri beispielsweise versucht alltägliche Situationen, wie die eines unaufgeräumten Tisches nach einer Mahlzeit, festzuhalten, indem er Essensreste und benutztes Geschirr auf der Tischplatte fixiert und den gesamten Tisch um 90 Grad gedreht an die Wand hängt. Seine sogenannten "Fallenbilder" können als Spurensicherungen betrachtet werden, die lebenstypische Übergänge zwischen Stillstand und Veränderung markieren. Auch der Neue Realist Jean Tinguely bezieht sein Material aus dem trivialen Alltag. Objets trouvés, vorwiegend Fundstücke von Schrotthalden und Müllkippen, erweckt er seit 1953 in zahlreichen elektrischen Apparaturen zu neuem Leben. Die mal spielerisch-lebenslustigen, mal monströs-destruktiven Maschinerien überführen die Welt der Technik ins Nutzlose, mit ironischem Augenzwinkern oder in selbstzerstörerischer, tragischer Absurdität.

Arte Povera, Materialkunst und Prozesskunst bedienen sich in den 60er Jahren so genannter armer, trivialer, oftmals unbemerkter Materialien und loten ihr Eigenschaftspotenzial neu aus. Zunächst dürftig erscheinende Werkstoffe wie Filz, Blei und Gummi werden, in oftmals minimalistischer Anordnung, zum Ausgangspunkt für vielschichtige Reflexionen und Assoziationen. Eva Hesses Arbeiten aus den 60er Jahren sind geprägt von einer weichen, veränderlichen und fragilen Stofflichkeit. In Latex getauchte Stoffbahnen ("Contingent"), mit Fiberglas verstärkte und in Kunstharz getauchte Schnüre (‚Right After’) hängen fast schwerelos von der Decke ab. Material wird hier in seiner organischen Prozesshaftigkeit und Physikalität vorgeführt.

Aber auch mobile Naturstoffe wie Wasser, Pflanzen, Wachs und Wind veranschaulichen Veränderungen und Prozesse, die abgeleitet von der Natur auch auf menschliche Entwicklungen übertragbar sind. Beispiel hierfür sind Klaus Rinkes "Primärdemonstrationen" von 1968/69. Anhand von begehbaren Wassersäcken und Schöpfvorgängen präsentiert er Wasser als plastisches, prozessuales Material und verdeutlicht Phänomene der Schwerkraft und des Fließens.

Auch die Land-Art-Künstler der 70er Jahre finden ihr Ausgangsmaterial Stein, Erde, Wasser, Wind und andere Naturphänomene in Landschaftsräumen fernab der Städte. Im Ausheben von Gräben, Ziehen von Kalklinien und Aufschichten von Felsbrocken vollziehen sie vergängliche Eingriffe in die Natur und visualisieren ein Zusammenspiel von menschlicher Präsenz und Naturgewalt.

Doch die bildende Kunst erweitert sich im 20. Jahrhundert um weitere Medien: Interdisziplinäre, medienübergreifende Ansätze entstehen bereits ab 1916 im Rahmen dadaistischer Aktionskunst. Maler und Dichter des Züricher "Cabaret Voltaire" werden zum Sprachrohr der damaligen Avantgarde und provozieren das Publikum mit politischer Satire, Simultangedichtlesungen und Geräuschmusik. Weiterhin zeichnen sich die dadaistischen Künstler insbesondere durch ihren experimentellen und unkonventionellen Umgang mit moderner Technik wie Fotografie und Film aus. Der interdisziplinäre Ansatz des Bauhauses (1919-33) findet seine Verwirklichung in der Zusammenführung von Kunst und Handwerk sowie in seiner Vision des Gesamtkunstwerks, zu dem alle Künste beitragen sollen: Architektur, Malerei, Plastik, Musik, Tanz und Dichtung.

Trotz europäischer Vorstöße ist der Einfluss auf die bildende Kunst seit Mitte der 40er Jahre durch einen Grenzgänger, nämlich den amerikanischen Avantgardekomponisten John Cage, unter Künstlern und Kritikern unumstritten. Sehr nachhaltig ist von ihm das Materialspektrum der bildenden Kunst um die Einbindung von Geräuschen und Tönen und anderen grenzübergreifenden künstlerischen Medien erweitert worden.1952 inszeniert er ein besonderes Kunst-Ereignis, das heute als das "Ur-Happening" gilt und sich aus einer indeterminierten Abfolge multimedialer Einzelteile zusammensetzt: Unter einem Baldachin von Rauschenbergs Bildern, den "White Paintings", sitzt das Publikum und finden die Aktionen statt: Vorwiegend zeitgleich werden an einer Wand ein Film gezeigt und auf der anderen Seite Dias projiziert, eine Schallplatte abgespielt, Vorträge gehalten, Klavier gespielt und getanzt. Bildnerische, musikalische und theatralische Elemente vereinigen sich hier zu einer Collage von Aktionen. Nicht das abgeschlossene Kunstwerk zählt, sondern das prozessuale Geschehen, das Erfahrung freisetzt.

Bereits 1940 macht Cage in der "Living Room Music" Alltagsgegenstände zu Klangerzeugern, im Jahr 1952 werden Alltagsgeräusche zum eigentlichen Inhalt des Werkes. Nicht das Urinoir, sondern das beiläufige Räuspern wird auf den Sockel der Kunst gehoben. Der Titel des epochemachenden Stückes "4’33’’ ", 4 Minuten und 33 Sekunden, bietet lediglich eine Zeitangabe. Alltagsgeräusche außerhalb des Saales, das Husten und Stühle rücken der Zuhörer im Saal avancieren zum essenziellen Bestandteil der Aufführung. Durch die fast vollständige Eliminierung von Instrumenten oder anderen Klangerzeugern (nur das Zu- und Aufklappen eines Klavierdeckels zeigt den Beginn und das Ende des Stückes an) wird das Werk nahezu immateriell, alles Sichtbare unwesentlich.

Der Einbezug von auditiven Elementen, vollzogen in den Werken von Klangkünstlern und anderen, spielt nicht zufällig in der Ausstellung "Mit Sinnen" eine große Rolle. Ihr Einsatz und ihre Funktion kommen jedoch auf sehr unterschiedliche Weise zum Tragen.

Mark Formanek bietet in seinem "Tonarchiv" Alltagsgeräusche aus aller Welt, ganz im Cageschen Sinne: Der Besucher kann hier auf fiktive Reise gehen, Ramadan am Rande der Sahara oder die Müll-Abfuhr in Tel Aviv erleben. Bekannte Geräusche mischen sich hier mit exotischen, fremden Alltagswelten und schaffen in der Imagination des Hörers immer wieder neue Raum-Bilder und Klang-Welten.

Nicht das Alltagsgeräusch, sondern der Alltagsgegenstand lädt in Rita Kannes Installation "SchrankWand" zur vielschichtigen Reflektion ein. Ein herkömmlicher Kleiderschrank wird in ein skulpturales, begehbares Objekt verwandelt, durch seine Innenausstattung neu belebt und gleichzeitig seiner ehemaligen Zweckbestimmtheit entfremdet. Genauso lässt der zu hörende Text über die kulturgeschichtliche Funktion von Kastenmöbeln und seine psychologische Bedeutung in der bürgerlichen Wohn- und Alltagswelt den Gegenstand in neuem Licht erscheinen.

Auf skurrile und für manchen möglicherweise makabere Weise bildet bei Helmut Lemkes Satellitenkunstwerk im Detmolder Freilichtmuseum das Schwein nicht nur thematischen Ausgangspunkt, sondern wird auch zum künstlerischen Material. Während im rechten Stall Schweinequieker und -grunzer aus aller Welt als wohlgeordnete Klanglandschaft zu hören sind, macht sich Lemke die Überreste des Schweins wie Därme, Häute und Knochen im linken Stall auf neue Art zunutze und entwickelt eine Reihe von Instrumenten, die von Motoren angetrieben, ein unzivilisiertes Klangchaos auslösen.

Entscheidend für den Wahrnehmungsprozess von Mic Ennepers "Korona Nr. 190 A" ist vor allem das Material: Die leicht verformbare Wachswand ist über den Tast- und Geruchssinn intensivst zu erfahren. Wachs schmilzt relativ schnell oder erstarrt bei Abkühlung in neuer Form und verweist somit auf das Prozesshafte und Transitorische in der Natur. Ein anderer Aspekt wird in der olfaktorischen Qualität des Materials angesprochen: Gerüche gelten in der Wahrnehmungspsychologie als Stimulanten für Erinnerungen, die besonders weit zurückliegen. Und ein eigenes Stück Erinnerung schließt Enneper in seine Wachswand ein: das Fragment einer früheren Arbeit ist gleich den Reliquien eines Heiligenschreins in das Marler Wachsobjekt integriert.

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