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Texte


Nicola Kochhafen:
Die unmittelbare Sprache der Kunst und ihre Wurzeln im 20. Jahrhundert

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Von der Sockelskulptur zur labyrinthischen Raumerfahrung

Die Kunst wird im 20. Jahrhundert vom Sockel geholt. Nicht nur Duchamps Readymades veranschaulichen dies in paradoxer Geste. Kunst erobert im wörtlichen Sinne neue Räume. Auf dem Boden, an der Wand, integriert in Installationen wird der umgebende Raum in die Idee des Kunstwerks miteinbezogen. Das Kunstwerk wird begehbar. Und außerdem: Das Kunstwerk kann quasi überall sein. Im Stadt-Raum, Natur-Raum, öffentlichen und privaten Raum eröffnen sich für den Rezipienten neue "Wahrnehmungsräume".

Wie bereits im letzten Kapitel angedeutet, initiiert der kubistische Ansatz einen neuen Umgang mit Form: Picasso zerlegt den Körper der Gitarre in einzelne dreidimensionale Elemente, die verschoben, verzerrt und neu zusammengesetzt die innere Struktur einer komplexen dreidimensionalen Konstruktion sichtbar machen. Negativ- und Positivformen verkehren sich, Ebenen verschieben sich ineinander und Mehrperspektivität wird an einem Objekt deutlich.

Wenige Jahre später beziehen die Künstler des russischen Konstruktivismus den umgebenden, realen Raum in ihre dreidimensionalen nicht-utilitären Konstruktionen ein. Wladimir Tatlin schafft aus elementaren geometrischen Formen unterschiedlicher Materialbeschaffenheiten "Eckreliefs", die auf einen Draht gezogen zwischen zwei Wände verspannt werden. Die Raumecke wird konkret in das Balancespiel des Kunstobjektes miteinbezogen - 1914/15 die erste entschiedene Absage an die Sockelskulptur. Doch Tatlin geht noch weiter. Sein über vier Meter hohes Modell für ein Denkmal der "Dritten Internationale" von 1919, ein sich spiralförmig in den Raum drehender Turm aus Holz, Stahl und Glas, der als dreidimensionale Utopie politisch-sozialen Fortschrittsglauben symbolisieren soll, bildet eine Synthese aus Raumkomposition, architektonischem Monument und künstlerischer Maschinerie. Mit einer einzigen Kurbel kann die kurvenreiche Apparatur auch in Bewegung gesetzt werden. Zeit, als vierte Dimension, wird in das Werk integriert.

Die Einbeziehung der Faktoren Bewegung und Zeit in dreidimensionale Gestaltungen hat weitreichende Folgen für die Ausweitung des Objektes in den Raum. Der Futurist Umberto Boccioni entwickelt ab 1912 Skulpturen, in denen sich das Prinzip der Dynamik als Gleichzeitigkeit mehrerer ineinander greifender Bewegungsphasen darstellt. Zeit wird hier zu einer sichtbaren Dimension des Raumes. Während der futuristische Ansatz formal auf die Gleichzeitigkeit von Wahrnehmungsvorgängen, d.h. von Raum-, Zeit- und auch Geräuschempfindung abzielt, wird in der kinetischen Kunst Zeit im realen Bewegungsprozess von Objekten verdeutlicht.

Duchamps Interesse an der Kinetik ist ab 1920 vor allem auf optische Phänomene konzentriert. In seinen "Rotorreliefs" und "Rotierenden Glasplatten" (Optisches Präzisionsgerät) untersucht er, wie sich Bewegung auf Wahrnehmung auswirkt. Spiralscheiben erscheinen beim Drehen dreidimensional, rotierende Kreis-Segmente setzen sich im Auge des Betrachters zur geschlossenen Spirale zusammen.

In einer kinetischen Licht-Maschine realisiert Laszlo Moholy-Nagy 1930 materielose Raumgestaltung durch Licht. Der Umraum der rhythmisch bewegten Apparatur wird zum erweiterten Wirkungsfeld des kinetischen Objektes. Die Licht-Experimente des Bauhauses können hierfür als Vorläufer gelten, eine Weiterführung erfährt die Lichtkinetik in den 50er Jahren durch die Künstler der Op Art: In beweglichen Licht-Körpern und Licht-Räumen beziehen Otto Piene und Heinz Mack immer wieder auch den Betrachter in den künstlerischen Prozess ein. Durch diese spontane Beteiligungsmöglichkeit des Zuschauers, aber auch durch den hohen ästhetischen Reiz, erringt die Lichtkinetik sehr schnell allgemeine Beliebtheit.

In den, ab den 30er Jahren, von Alexander Calder erfundenen "Mobiles" wird der umgebende Luftraum zum kinetischen Partner: Nach anfänglichen Experimenten mit Motorantrieben nutzt Calder in späteren Jahren lediglich den Wind als Antrieb für seine komplexen Organismen voneinander abhängiger abstrakter Elemente.

Anfang der 60er Jahre beziehen auch die Künstler der Minimal Art die Relationen des Objektes zum umgebenden Raum in ihren puristischen Ansatz ein. In ihrer radikalen Rückführung der Form auf elementare Grundstrukturen suchen Minimalisten wie Donald Judd und Robert Morris nach den wesentlichen Determinanten des Volumens und konfrontieren die Betrachter mit einfachen geometrischen Strukturen wie Kuben und Gitter, oft in serialer Anordnung. Die Form soll nichts darstellen, sie stellt nur sich selbst dar. Oft versperren Kuben und Kästen dem Betrachter gleichsam als "Sehbarrieren" den Weg und animieren zur gesonderten Wahrnehmung. Nicht nur Proportion, Rhythmus, Perspektivität und Oberflächenbeschaffenheit lassen sich in puristischer Anschauung ausloten, auch das eigene Verhältnis zum Objekt und seine Relationen zum Umraum, das heißt zum musealen Innenraum oder urbanen Außenraum, werden erfahrbar gemacht.

In der Land-Art wird der Ansatz der Minimal Art, Ende der 60er Jahre, auf natürliche oder industriell veränderte Landschaftsräume übertragen. Die künstlerischen Eingriffe im Außen-Raum Landschaft vollziehen sich in oftmals unscheinbaren, leicht vergänglichen Details wie bei den Steinkreisen Richard Longs oder in markanten, oft gewaltigen Eingriffen durch Bewegung immenser Erdmassen wie bei Michael Heizer und Robert Smithson. Die Dimensionen von Natur werden in den oftmals entlegenen, unbewohnten Natur-Räumen erfahrbar gemacht, die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt neu zum Thema erhoben.

Auch der Stadt-Raum wird immer mehr für die alltägliche Auseinandersetzung mit Kunst genutzt. Im Zuge dessen wird Skulptur erstmals auch begehbar. Als Vorreiter ist Erich Reusch zu nennen, der 1956/57 bereits horizontale Scheibenskulpturen konzipiert, die den urbanen Raum gliedern und rhythmisieren.

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