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Texte


Nicola Kochhafen:
Die unmittelbare Sprache der Kunst und ihre Wurzeln im 20. Jahrhundert

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Vom Künstlerschöpfer zum interaktiven Rezipienten

Mit dem Rückzug des Künstlers aus dem Schöpfungsakt werden im 20. Jahrhundert andere Bestimmungsfaktoren zu werkimmanenten Bestandteilen der künstlerischen Gestaltung. Räumliche Determinanten, Technik, Natur und Zufall avancieren zu interaktiven Partnern des Kunstwerks und insbesondere dem Rezipienten wird eine neue Rolle zugewiesen. Er wird zum Teil des Kunstwerks, ist aufgefordert, eigene Position zu beziehen und durch seinen Beitrag das Kunstwerk mitzugestalten, zum Teil nur gedanklich, zum Teil auch physisch bzw. interaktiv in die Struktur des Werkes eingreifend. Jeder neue Blick des Rezipienten auf das Kunstwerk schafft es dabei neu, jede neue Interaktion eröffnet neue Erfahrungen und Perspektiven. Mehrdeutigkeiten geben Anlass zu vielfältigen Assoziationen.

Deutlich wird die gedankliche Partizipation des Betrachters erstmals bei Duchamps Readymades. Der banale Gebrauchsgegenstand, das Pissoir von 1917, schockiert die damalige Kunstwelt und fragt nach den Bedingungen von Kunst. Das unbrauchbar gemachte Objekt machte ein neu zu füllendes Vakuum deutlich und zeigt: Kunst entsteht letztlich erst im Kopf des Betrachters. Der Künstler als einziger Schöpfer des Kunstwerks zieht sich hier entschieden zurück zugunsten des Rezipienten.

Duchamp integriert noch einen anderen "Mitspieler" in sein Werk: den Zufall. Die "Trois stoppages étalon" (Drei Musterfäden) von 1913 zählen neben den ersten Readymades zu den Schlüsselwerken Duchamps. Ähnlich einem physikalischen Experimentaufbau lässt er einen Faden von einem Meter Länge aus einem Meter Höhe auf eine horizontale Ebene herunterfallen. Er wiederholt das Experiment noch zweimal, klebt die Fäden entsprechend ihrer neuen Form auf Glasstreifen und arrangiert sie in einer Holzkiste, ähnlich dem Platin-Urmeter, das im "Internationalen Büro für Maße und Gewichte"in Sèvres bei Paris aufbewahrt wird. Hinzu fügt er drei Holzlineale, die die Form der Fäden haben. Zufall wird hier zum einen zum Mittel seine künstlerische Handschrift in Vergessenheit zu bringen und sich von traditionellen künstlerischen Techniken und Konventionen zu lösen, zum anderen dient der Zufall hier als neuer Maßstab, der sich der logischen Wirklichkeit entzieht und die aktuelle Skepsis gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zum Ausdruck bringt.

John Cage räumt dem Zufall einen noch höheren Stellenwert ein als sein Freund Duchamp. Um künstlerisch absichtsvolles Tun so weit wie möglich zu minimieren, nutzt er seit den 50er Jahren das "I Ching", das chinesische Buch der Wandlungen und das darin enthaltene Zufalls-Prinzip. Mithilfe von Würfeln werden Faktoren wie Tonhöhe, Tondauer, Klangfarbe, Instrumente sowie Pausen ermittelt und als einzelne Partitur-Fragmente für eine neue Komposition bereitgestellt.

Die von Cage veranstalteten Kunst-Ereignisse in den 50er Jahren geben entscheidende Impulse zur Entstehung von handlungsorientierten Aktionsformen wie Happening, Fluxus und Performance und den weiten Bereich von Mixed Media.

Besonders involviert in die praktische Weiterentwicklung und theoretische Ausformulierung von Happenings ist der Cage-Schüler Allan Kaprow, der ab 1958 in Amerika selbst Happenings veranstaltet. Zuschauer werden dabei beispielsweise zu Aktionen wie Fässerrollen, Stühlerücken oder zum Hin- und Hertragen von Fahrgeräten aufgefordert. Im Happening geht es nach Kaprows Definition vor allem um die Wechselwirkung zwischen menschlicher Aktion und vorgefundenen Situationen des alltäglichen Lebens. Durch die Aufhebung des Unterschieds zwischen agierendem Künstler und Publikum wird der Zuschauer zum interaktiven Bestandteil des Kunstwerks. Das Happening möchte gewohnte Verhaltens- und Denkmechanismen in Frage stellen und für eine neue Erlebnisfähigkeit sensibilisieren. Diese Sensibilisierung für eine bewusste Wahrnehmung von Realität ist immer auch mit einer Ausweitung der sinnlichen Qualitäten verbunden. Nicht nur das Auge des Rezipienten, auch Gehör-, Tast-, Geruchs- und Geschmackssinne sollen angesprochen werden. Die Kombination aller erdenklichen Materialien, Medien und künstlerischen Gattungen unterstützt diesen Anspruch. Einmaligkeit und Improvisation sind weitere Stichpunkte in Kaprows Definition, die den ungeplanten Ereignischarakter des Happenings als wesentlich in den Vordergrund stellen. Wichtig für den Rezipienten eines Happenings ist nicht das fertige Kunst-Produkt, sondern die interaktive Teilhabe am Prozess des Geschehens.

Die in Europa Anfang der 60er Jahre entwickelte Aktionsform des Fluxus und die in den 70er Jahren entstandene Aktionsform der Performance gelten als Handlungsabläufe, bei denen Künstler bzw. Akteure sehr viel stärker oder ganz vom Publikum getrennt sind und die Aktion sehr stark von einer fixierten Handlungsvorlage abhängig ist. Gemeinsam ist jedoch allen drei Aktionsformen, dass der Schöpfungsprozess nicht indirekt über ein Kunstwerk vollzogen wird, sondern direkt am Körper.

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