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Texte


Nicola Kochhafen:
Die unmittelbare Sprache der Kunst und ihre Wurzeln im 20. Jahrhundert

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Der Körper als künstlerisches Medium wird insbesondere in den 60er und 70er Jahren erforscht. 1961 stellt sich Timm Ulrichs als erstes lebendes Kunstwerk selbst aus und macht eigene Körperwahrnehmung und Körpervermessung zu einem zentralen Thema seiner künstlerischen Praxis. In Franz Erhard Walthers Arbeiten wird der Rezipient selbst zur gesonderten Körperwahrnehmung angeregt. Sein neuer Werkbegriff, Skulptur als "Handlungsanweisung", macht den Betrachter zum Benutzer seiner Objekte: Stoffbücher, Säcke, Hüllen und Bahnen animieren zu bestimmten Bewegungen und Handlungen. Diese Körpererfahrungen können allein oder in der Gruppe gemacht werden. Begegnung, Bewegung, Gegenbewegung und Kommunikation sind dabei wesentliche Elemente im interaktiven Kunstprozess.

Die Wechselwirkung von Körper- und Raumerlebnis untersucht insbesondere Bruce Nauman in seinen multimedialen Arbeiten. Korridore, Kammern oder Tunnel sondieren Wahrnehmung und schaffen Raumerfahrungen, in denen der Rezipient ganz auf sich geworfen ist. Mit absurden, großformatigen Installationen zwischen Architektur und Apparatur weist Alice Aycock auf die Undurchschaubarkeit menschlicher Technik hin. Als eine Metapher für das nordamerikanische Autobahnsystem schafft sie 1972 "Maze", ein Labyrinth aus Holzlatten, in dem man sich verliert, wenn man hineingeht.

Weitere interaktive Möglichkeiten der Teilhabe am künstlerischen Schöpfungsprozess sind bereits in den vorherigen Kapiteln angesprochen worden. Sowohl Spoerris Fallenbilder als auch das Konzept seiner "Eat Art Gallery", die er 1968 in Düsseldorf eröffnet, stützen sich stark auf partizipatorische, multisensorische und prozesshafte Bedingungen von Kunst. In der Kinetik wird der Rezipient durch bewegliche Teile des Kunstwerks zum interaktiven Eingreifen animiert. Minimal Art, Land Art und Kunst im öffentlichen Raum betonen die Relationen zwischen Kunstobjekt, Raum und Rezipient, die vor allem durch die Bewegung des Rezipienten erfahrbar wird. Environment- und Installationskünstler setzen vielfach stark auf die atmosphärische Wirkung ganzer Raumgestaltungen, die durch den Einsatz auch nicht-visueller Medien die Wahrnehmung des Besuchers konzentrieren und unmittelbar werden lassen.

Bei der Installation "Die Klangwand 1979" von Peter Vogel wird der Besucher im Skulpturenmuseum Marl zum unverzichtbaren Teil des Kunstwerks. Durch Bewegung und Abschattung des Rezipienten werden unterschiedliche Klangfiguren spielerisch, das heißt improvisierend oder komponierend-absichtsvoll, mithilfe von Photozellen und Klang-Generatoren erzeugt. Ähnlich wie Cages Partitur-Fragmente bildet Vogels Klangwand eine variable Partitur, deren Interpretation allein vom "Spieler" abhängig ist.

Spielerisch ist auch der Zugang zum minimalistischen Objekt "Hügel" von Martin Willing. Die spiralförmige Gestalt auf dem Boden des Skulpturenmuseums Glaskasten erinnert zunächst an die reduzierte Formensprache von Donald Judd und Sol LeWitt. Durch Berühren der kegelförmigen Spitze jedoch gerät die Spirale in Schwingung, der Besucher kann immer wieder neue Bewegungswellen auslösen, die am Ende des hochsensiblen Metalldrahtes reflektiert werden und sich zu komplexen Bewegungsabläufen überlagern.

Das in Marl ausgestellte Kunstwerk von Timm Ulrichs ist nur über den haptischen Zugang vom Rezipienten in seiner Gänze zu begreifen. "Das Buch der Berührungsängste (Mimose/Mimese)" reflektiert das Thema Blindheit auf paradoxe und mehrbödige Weise: Die Blindenschrift mit dem lateinischen Hinweis "Noli me tangere" (= Berühre mich nicht) ist – zumindest für Blinde – nicht ohne Berührung zu lesen, ein leichter Stromschlag sorgt jedoch schnell dafür, dass der Rezipient seine Finger davon lässt und selbst zur Mimose mit gefiederten Blättern wird, die bei der geringsten Erschütterung abwärts klappen. Ulrichs Werk ist durchzogen von Wortspielereien und sprachlichen Eulenspiegeleien und alle Deutungsansätze müssen in mehrschichtigen Interpretationen enden. Der "Magritte zum Anfassen" wirft Fragen auf wie: Handelt das Objekt von der Berührungsangst Sehender gegenüber ihren blinden Mitmenschen? Oder geht es auch um Berührungsängste gegenüber dem Buch als solchen, verstanden als schriftliche Quelle von Wissen und Erkenntnis? Will das Objekt uns sagen, dass Erkenntnis wehtun kann oder wehtun muss, egal ob ich im platonischen Sinne sehend oder tastend wahrnehme? Will es auf immer wieder eigene Blindheiten anspielen, in denen mir der Blick auf das Wesentliche versperrt ist? Nicht der Künstler, nur der tastend-reflektierende Ausstellungsbesucher in Marl wird das dreidimensionale Paradoxon mit eigener Einsicht vollenden.

Im bereits erwähnten Satellitenkunstwerk von Rilo Chmielorz "Kohle ?" wird der interaktive und integrative Ansatz des Ausstellungskonzeptes "Mit Sinnen" äußerst komplex umgesetzt. An den installierten Tischen werden die Besucher aufgefordert, die ausgelegten Schiefertafeln kratzend zu bearbeiten und so als Spieler bzw. Performer in den Kunstprozess einzugreifen. Darüber hinaus wird durch den dialogischen Aufbau der Installation zur non-verbalen Kommunikation zwischen möglicherweise auch unbekannten Besuchern animiert. Die hinterlegte collageartige Klangkomposition beinhaltet unter anderem Interviewausschnitte mit blinden und sehenden Jugendlichen und regt zum Nachdenken über unterschiedliche Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster an.

In den angebotenen Erfahrungsmöglichkeiten der Rauminstallation "Blendung" stellt sich Stefan Pietryga auf die verschiedenen Wahrnehmungsebenen der Rezipienten ein: Für Blinde ist die Strahlung des Rotlichts fühlbar, für Sehende überwiegt die sichtbare Blendung durch Lichtimpulse. Die sowohl filmgeschichtlich als auch vielfach kulturhistorisch aufgegriffene Thematik der Blendung wird durch die Bewegung der Besucher im Raum sehr unterschiedlich physisch nachvollziehbar. Die Irritation von Wahrnehmung sensibilisiert und animiert zum ergänzenden Assoziieren. Im verbalen Austausch besteht für beide Besuchergruppen die Chance, das eigene Wahrnehmungs- und Bewusstseinsspektrum zu erweitern.

Andreas Köpnicks raumgreifende Textinszenierung "Über das Schöne" überträgt ins Dreidimensionale, wie stark Wahrnehmung und der eigene Horizont vom Standpunkt und Selbst-Bewusstsein jedes einzelnen abhängen. Der Besucher entscheidet mit seiner räumlichen Positionierung darüber, welche der drei Tonspuren auditiv im Vordergrund ist. Gleichzeitig kann das komplexe Zusammenspiel von Licht, Ton und Bewegung nur bis zu einem gewissen Grad durch interaktives Handeln logisch erschlossen werden, die undeutbaren "Leerstellen" sind von den Imaginationskräften der Besucher auszufüllen.

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