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Aufbau West – Die Ausstellungsidee

Interview mit der Kuratorin Dr. Dagmar Kift

Foto: Westfälisches Industriemuseum
Wieso macht ein Industriemuseum eine Ausstellung über Flüchtlinge und Vertriebene?

Weil Flüchtlinge und Vertriebene in der Industriegeschichte nach 1945 eine große Rolle spielten und weil unser Museum den Auftrag hat, bei seiner Dokumentation der Kultur des Industriezeitalters stets den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Das hat der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) auch ausdrücklich so festgehalten, als er 1979 das Westfälische Industriemuseum gründete. In unseren acht Standorten, Industriedenkmalen von herausragender architektur- oder technikgeschichtlicher Bedeutung, nehmen daher die Themen „Arbeit und Leben“ einen breiten Raum ein: Wir erzählen die Geschichte der Arbeiter und Arbeiterinnen der Branchen, die in unseren Standorten vertreten sind, zeigen, wie Unternehmer und Arbeitnehmer die betrieblichen Verhältnisse gestalteten, und machen sichtbar, wie Einheimische und Zuwanderer Westfalen und Lippe in eine führende Industrieregion verwandelten.

Das Industrieland Nordrhein-Westfalens schuf nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlagen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Welche Rolle spielten die Flüchtlinge und Vertriebenen hier konkret?

In vielen Branchen ersetzten sie nach dem Krieg fehlende Arbeitskräfte, etwa im Bergbau oder der Bau- und der Textilindustrie. Als Unternehmer führten sie neue Produktionszweige ein und verbesserten damit lokale Wirtschaftsstrukturen. Das gilt vor allem für die Glas- und die Bekleidungsindustrie. Der 60. Jahrestag des Kriegsendes schien uns ein guter Anlass, das deutlich zu machen, denn die Flüchtlinge und Vertriebenen sind ja eine unmittelbare „Kriegsfolge“. Wir haben „Aufbau West“ aber gleich bis 2006 gezeigt und damit an ein weiteres Jubiläum angeknüpft, denn 1946 wurde das Bundesland Nordrhein-Westfalen gegründet. „Aufbau West“ war insofern auch ein vorgezogenes „Geburtstagsgeschenk“, mit dem wir den Beitrag des Landes – und seiner Zuwanderer und Zuwanderinnen – zum Wirtschaftswunder noch einmal in Erinnerung rufen wollten.

Mit dem Titel „Aufbau West“ spielen Sie aber noch auf etwas anderes an, den „Aufbau Ost“, nicht wahr?

Ja. Was wir in „Aufbau West“ darstellten, umfasste den Zeitraum von 1945 bis 1961, d.h. bis zum Mauerbau. In der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen haben wir auch die Menschen einbezogen, die aus der damaligen DDR geflüchtet sind – und in der sich im übrigen auch viele Vertriebene befanden, die zunächst in der sowjetischen Besatzungszone gelandet waren. Die Ausstellung machte deutlich, dass den heutigen Transferleistungen von West nach Ost nach dem Krieg enorme Transferleitungen von Ost nach West vorangegangen sind, die nachhaltig zum hiesigen Wirtschaftswunder beigetragen haben. Dass es da einen Bezug gibt, sollte der Titel andeuten.


Foto: Westfälisches Industriemuseum
Flucht und Vertreibung beherrschen die politische und gesellschaftliche Diskussion nach wie vor stark. Wie sind Sie in „Aufbau West“ mit diesen Themen umgegangen?

Mit „Flucht und Vertreibung“ leiteten wir in die Ausstellung ein und machten deutlich, wo die Menschen, die in ihrem Mittelpunkt stehen, herkamen, wie sie herkamen, aufgenommen wurden, sich integrierten und gemeinsam mit den Einheimischen Neuanfang und Aufbau bewältigten. Ausführlich konnten wir uns diesen Themen nicht widmen, da der Schwerpunkt der Ausstellung auf dem Wiederaufbau lag. Mit „Aufbau West“ haben wir allerdings neue Gesichtspunkt in die Debatte um die Flüchtlinge und Vertriebenen eingebracht: Wir führten ihre Geschichte nach 1945 fort und zeigten, wie es nach Flucht und Vertreibung weiterging und was die Flüchtlinge und Vertriebenen zum Wiederaufbau beisteuerten. Damit leisteten wir gleichzeitig einen industriegeschichtlichen Beitrag zur Geschichte der Bundesrepublik.

40 Lebensgeschichten nahmen bei „Aufbau West“ nicht nur viel Raum ein, sie standen auch räumlich im Mittelpunkt. Warum haben biografische Zeugnisse bei Ihnen einen so großen Stellenwert?

Die Arbeit mit Lebensgeschichten ermöglicht uns, die sogenannte „große“ Geschichte am konkreten Beispiel nachvollziehbar zu machen und komplizierte Zusammenhänge anschaulich darzustellen. Auch das Thema Vertreibung konnten wir über die Lebensgeschichten immer wieder kontextualisieren und gleichzeitig für ein Ausstellungspublikum verständlich aufbereiten.


Foto: Westfälisches Industriemuseum
Wie sah das praktisch aus?

Eine unserer Zeitzeuginnen stammt aus Bessarabien, das nach dem Hitler-Stalin-Pakt in Stalins Einflussbereich fiel. Die Nationalsozialisten siedelten die Bessarabien-Deutschen aus und die Familie unserer Zeitzeugin im besetzten Polen auf einem Bauernhof an, dessen Besitzer sie zuvor vertrieben hatten. 1947 deportierten die Sowjets sie und ihre Tochter zur Zwangsarbeit nach Tadschikistan, wo die beiden erst 1955, zusammen mit den letzten Kriegsgefangenen, freikamen. Das Beispiel dieser Zeitzeugin deckt natürlich nicht alle damaligen Bevölkerungsverschiebungen in Osteuropa ab. Aber wir konnten anhand der Geschichte dieser Zeitzeugin exemplarisch deutlich machen, dass den Vertreibungen der Deutschen bei und nach Kriegsende vor 1945 umfassende Vertreibungen durch Deutsche vorausgegangen sind, dass zahlreiche Menschen mehrmals zwangsumgesiedelt wurden, dass der Krieg für viele 1945 noch lange nicht vorbei war, warum das Thema Vertreibungen in Osteuropa immer noch so ein heikles Thema ist – all das lässt sich mit lebensgeschichtlichen Beispielen den Besucherinnen und Besuchern viel näher bringen als mit abstrakten Daten und Fakten.

Dass die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im Westen gelungen ist, gilt, auch weil sie so schnell verlief, als wesentlicher Teil der Erfolgsgeschichte der jungen Bundesrepublik. Ihre Ausstellung bestätigt das. Konnten Sie dem überhaupt noch etwas Neues hinzufügen?

Ja, denn rasch war die Integration nicht wirklich, wie auch neuere Forschungsergebnisse zeigen, und glatt schon gar nicht. Es gab viele Brüche und Verwerfungen, die jetzt erst langsam ins Blickfeld geraten. Der erfolgreichen Integration sind traumatisierende Erlebnisse bei Flucht, Vertreibung und häufig auch Ankunft vorausgegangen. Das musste verarbeitet werden, während man sich aus dem Nichts eine neue Existenz aufbaute – und gleichzeitig lange darüber im Unklaren gelassen wurde, dass man nicht mehr zurückkonnte. Wirklich „angekommen“ sind viele erst Jahre später. Und was uns auch wichtig war: zu zeigen, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen nicht spurlos in der Aufnahmegesellschaft verschwunden sind.

Dass schon die Integration der (deutschen) Flüchtlinge und Vertriebenen Spuren in der Aufnahmegesellschaft hinterlassen hat, schlägt doch einen Bogen zur heutigen Diskussion um Migration und Integration, Leitkultur oder Multikulti. War das Absicht?

Ja, denn Integration ist nun mal nicht Anpassung. Sie verändert sowohl die Zuwanderer als auch die Aufnahmegesellschaft. Das wiederum konnten wir ganz gut anhand der Industriegeschichten zeigen: Viele Produktionszweige gibt es im Westen erst seit der Ansiedlung von Flüchtlingsbetrieben, viele Marken werden erst seit 1945 hier produziert.

Das sind nicht die Spuren, die man sonst so kennt – wie Gedenktafeln, Straßenschilder u.ä., nicht wahr?

Stimmt. Dazu kommen die Spuren, die die Flüchtlinge und Vertriebenen mittlerweile wieder in ihre Herkunftsgebiete gelegt haben. Dazu stellten wir beispielhaft einige Kooperationsprojekte vor bzw. benannten sie in den Lebensgeschichten. Dass einige unserer Zeitzeuginnen sich nicht nur im Westen erfolgreich integriert haben, sondern heute auch Ehrenbürger der Städte sind, aus denen sie vor 60 Jahren als Kinder vertrieben wurden, schlug nochmals einen Bogen zum Anfang und rundete die Ausstellung gleichzeitig sehr schön ab.

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