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Jung und Alt im Dialog

Bilanz der Museumspädagoginnen von „Aufbau West“,

Annette Kritzler,
Anja Kuhn,
Anette Plümpe

Foto: Westfälisches Industriemuseum
Foto: Westfälisches Industriemuseum
Für wen haben Sie die Ausstellung „Aufbau West gemacht? – Und wer ist tatsächlich gekommen?

Kuhn:

Wir wollten ein möglichst breites Besucherspektrum erreichen – aus allen Generationen und allen Schichten. Deshalb haben wir uns Gedanken über die verschiedenen potenziellen Zielgruppen und deren Bedürfnisse und Erwartungen gemacht und dann für sie möglichst differenzierte Angebote maßgeschneidert: Führungen und museumspädagogische Programme jeweils speziell für Erwachsene, für Grundschüler, Schüler der Mittel- und der Oberstufe.

Kritzler:

Die Erwachsenen-Führungen haben dann vor allem Betroffene gebucht, die ein Stück ihrer Lebensgeschichte sehen oder sogar aktiv aufarbeiten wollten, darunter nicht nur Flüchtlinge und Vertriebene, sondern auch zahlreiche Einheimische. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind mit ihren Oberstufenschülern gekommen, weil die Ausstellung gut an Themen wie Migration und Nachkriegsgeschichte der Fächer Geschichte, Politik, Geografie und Sozialwissenschaften anknüpfte.

Wie haben Sie die zum Teil recht schwierigen und Inhalte wie Flucht und Vertreibung jungen Leuten vermittelt?

Plümpe:

Die Schüler aus Primar- und Mittelstufe ließen sich gut bei den eigenen familiären Wurzeln abholen. Fragen nach der eignen Identität schulten das Bewusstsein für Begriffe wie Heimat und Fremde. Viele Schülerinnen und Schüler zeigten dabei einen eigenen Migrationshintergrund: Sie sind Kinder, Enkel oder Urenkel ehemaliger Gastarbeiterfamilien aus Italien, Griechenland und der Türkei; ihre Familien kamen als Aussiedler aus Polen, Kasachstan, Russland und der Ukraine. Einige Schüler hatten auch eigene Fluchterlebnisse zu berichten, z.B. wenn sie aus dem ehemaligen Jugoslawien stammten. Mit diesem geschärften Bewusstsein für die eigene Herkunft konnten die Kinder dann auf Zeitreise in die Ausstellung geschickt werden. Gepäckstücke und historische Lebensläufe gaben konkrete Hinweise bei der Spurensuche im Wirtschaftswunder und zeigten Integrationsmodelle.

Kuhn:

Bei den Oberstufenschülern war das „Kniffeligste“, die 16- bis 19-Jährigen möglichst früh so zu packen, dass sie sich 90 Minuten voll auf das Thema einließen. Wie gut das klappte, hat uns selbst erstaunt: Erfolgsfaktor war unser begehbarer Waggon, der symbolisch für die Deportationen des 20. Jahrhunderts inkl. der Vertriebenen stand. Hier rüsteten wir die Jugendlichen mit Gepäck und neuen Lebensläufen aus. Spannend war, dass das Zufallsprinzip auch mal einem Jungen die Rolle einer schwangeren Frau zuwies oder ein Mädchen zum Familienvater machte und diese ihre Rollen völlig problemlos akzeptierten. Wurde anfangs noch gekichert und rumgealbert, schlug die Stimmung meistens um, wenn die Museumspädagoginnen die Situation der Vertriebenen im Waggon heraufbeschworen: Enge, Hunger, Angst, Tod, Krankheit, Schikanen, Fäkaliengerüche. Auf diese Weise emotional angesprochen, ließen sich die Jugendlichen auf ihre historischen Lebensläufe und das Rollenspiel voll ein und gingen ihren Weg von der Flucht zu Wirtschaftswunder und Integration bereitwillig mit.


Foto: Westfälisches Industriemuseum
Foto: Westfälisches Industriemuseum
Was sollten Besucher – ob jung oder alt – für eine „Botschaft“ mitnehmen?

Kritzler:

Die jungen Leute sollten durch den historischen Spannungsbogen von Flucht und Vertreibung zu Wirtschaftswunder und Integration auf jeden Fall erfahren, dass jeder Einzelne, auch wenn er bei Null anfangen musste, seinen Beitrag zur Gesellschaft leisten und seinen Platz finden konnte. Das ließ sich nicht nur gut über die historischen Biografien transportieren, sondern auch über eine abschließende Spurensuche in der Gegenwart: Konsumgüter „mit Flüchtlingshintergrund“ wie Odol aus Dresden, Käthe-Kruse-Puppen aus dem schlesischen Breslau, nordböhmische Kunert-Feinstrümpfe, Straßenschilder, die an Siebenbürgen oder Danzig erinnern, sowie Denkmäler und Vertriebenenvereine machten – manchmal auch überraschend – deutlich, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen doch nicht spurlos in unserer Gesellschaft verschwunden sind.

Kuhn:

Auch für die Erwachsenenführungen war diese Spurensuche anhand von Konsumgütern, Straßenschildern usw. ein gelungener Abschluss. Er schärfte noch mal den Blick für die Gegenwart und zeigte dabei vor allem, wie viele dieser Menschen und Dinge aus „der Fremde“ selbstverständlich Bestandteile unseres täglichen Lebens geworden sind. Das kann durchaus als positiver Impuls für heutige Integrationsprozesse gelten.

Für viele Betroffene war anstelle einer inhaltlichen Botschaft vielleicht viel wichtiger, dass sie sich mit ihrer eigenen – zum Teil eben noch nicht aufgearbeiteten Lebensgeschichte – auseinandersetzen konnten oder mussten, ob als Flüchtlinge, Vertriebene oder Einheimische im Aufnahmeland. Die Auswahl der Exponate, Biografien und die Ausstellungsgestaltung führten in den Gruppen zu regen Dialogen, die manchmal auch sehr emotional waren, z.B. wenn es um Aufnahme und Ablehnung in der neuen Heimat oder Notkultur in der unmittelbaren Nachkriegszeit ging.

Plümpe:

Richtig spannend wurde es, wenn der Dialog generationsübergreifend geführt wurde. Da erfuhren Kinder zum ersten Mal nach 60 Jahren Genaueres über die Geschichte der Eltern: „Meine Mutter möchte bis heute nicht über ihre Flucht sprechen“ – dieser Satz oder ein ähnlicher waren beispielsweise häufig zu hören. Vielfach klinkten sich auch Besucher aus den Reihen der Betroffenen in Programme für Schulklassen ein und berichteten spontan über ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit Flucht und Wirtschaftswunder. Dies war für die Schüler und Schülerinnen am nachhaltigsten!

Kritzler:

Unterm Strich – und da spreche ich stellvertretend für alle Kolleginnen aus dem Team – war diese Kommunikationsqualität das „dickste Plus“ von „Aufbau West“ und macht die Ausstellung für uns, die wir die Museumspädagogik konzipiert und durchgeführt haben, zu einer unserer nachhaltigsten Ausstellungen.

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