Vertreibungen und Deportationen waren bis 1950 insgesamt knapp 12,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in die deutschen Besatzungszonen und die daraus entstandenen beiden deutschen Staaten gelangt1. Sie waren gezwungen, sich im Westen – fern der Heimat – in einem fremden sozialen und kulturellen Umfeld eine neue Existenz aufzubauen und hier ein zweites Leben zu beginnen. Dabei wurde die Abfolge der Eingliederung von regionsabhängigen Faktoren beeinflusst, denn die Integration der Vertriebenen in städtischen und ländlichen Regionen verlief unterschiedlich.
Insgesamt betrachtet erfolgte die Anerkennung und Eingliederung in Städten und Industrieregionen wie dem Ruhrgebiet schneller, auch wenn sich die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen und Vertriebenen hier zunächst als besonders schwierig und problematisch herausstellte: Durch die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg war ein Großteil des Wohnraums zerstört (in NRW und dem Ruhrgebiet um 20,6 Prozent2), gleichzeitig erhöhte sich aber nach Kriegsende schon allein mit der Rückkehr von Soldaten und evakuierten Stadtbewohnern die Anzahl der Wohnungssuchenden um ein Vielfaches. Bis 1950 wuchs die Bevölkerung in NRW und dem Ruhrgebiet um 10,6 Prozent3.
Weil es kaum möglich war, zusätzlich auch noch für Flüchtlinge und Vertriebene eine passable Unterkunft oder ausreichend Nahrungsmittel zu beschaffen, hat die Landesregierung nach dem Krieg für die rheinisch-westfälische Industrieregion eine fast absolute Zuzugsbeschränkung für Rückkehrer und Flüchtlinge verhängt. Ausgenommen waren junge arbeitsfähige Männer, die von der Besatzungsbehörde und Landesregierung gezielt für den Bergbau, der Schlüsselindustrie für den Wiederaufbau, angeworben wurden4. Bis 1948 hatte die Hälfte der durch Essen-Heisingen, der zentralen Sammelstelle des Bergbaus, geschleusten Neubergleute einen Fluchthintergrund5. Da die Ansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen im Ruhrgebiet nur in dem Maße erfolgte, in dem insbesondere für den Bergbau neue Arbeitskräfte gebraucht wurden, war der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an den Arbeitslosen im Revier relativ gering6. So zählte die Beschäftigung neben einer akzeptablen Unterkunft für die Flüchtlinge und Vertriebenen zu den ausschlaggebenden Kriterien, sich im Ruhrgebiet zunächst alleine eine neue Existenz aufzubauen und später ihre Familien nachzuholen. Die Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt selber finanzieren zu können, förderte nicht nur die Zufriedenheit der Betroffenen mit ihrem neuen Leben, sondern unterstützte auch deren Bereitwilligkeit, sich schneller in die neue Gesellschaft zu integrieren und das neue Leben zu akzeptieren. Förderlich für die Integration und die gegenseitige Toleranz war in diesem Sinne auch die Tatsache, dass Einheimische und Vertriebene zusammen arbeiteten und hier die Möglichkeit hatten, gemeinsame Erfahrungen zu sammeln und Kontakte zu knüpfen7.
Bergbau, wo schon immer mit Ausländern und Einwanderern gearbeitet wurde, erwies sich die Arbeit mit den Flüchtlingen und Vertriebenen als nahezu unproblematisch. Der Tenor hieß: wer anständig und fleißig war, wurde schnell akzeptiert8.Das Miteinander verschiedener Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, Gewohnheit und Verhaltensweisen war im Ruhrgebiet ohnehin lange vor 1945 Usus, so dass die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen in den Industriestädten aus diesem Grund weniger soziale oder kulturelle Verwerfungen zur Folge hatte9.
Positiv auf die Beziehung der beiden Gruppen zueinander wirkte sich auch aus, dass viele Einheimische Verständnis für die Notlage der Neuankömmlinge zeigten, da auch sie durch Ausbombung oder den Tod von Angehörigen ähnliche Verluste erlitten hatten. Trotz der toleranten Grundhaltung kam es natürlich in Einzelfällen auch immer wieder zu Animositäten. Immerhin waren gerade in den unmittelbaren Nachkriegsjahren Nahrung und Wohnraum knappe Ressourcen und die Flüchtlinge wurden von einigen Einheimischen als zusätzlich Konkurrenz gesehen. Tendenziell lässt sich in der Beziehung zwischen Flüchtlingen und Einheimischen aber dennoch von einer gegenseitigen Toleranz sprechen10. Letztlich gelang es den Flüchtlingen und Vertriebenen recht schnell, sich in städtisch-industriellen Regionen wie dem Ruhrgebiet eine neue Heimat zu schaffen. Die Grundvoraussetzungen waren dafür zunächst mit der Beschäftigung und relativen Toleranz der Einheimischen, sowie später mit dem Nachzug der Familienangehörigen und einer eigenen Wohnung, größtenteils gegeben.
Konträr dazu verlief die Integration in ländlichen Regionen. Hier gab es weniger Bombenschäden und eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln, weshalb die Alliierten Flüchtlingsströme und Vertriebenentransporte vorwiegend in kleine Gemeinden und Dörfer Niedersachsens, Schleswig-Holsteins und Bayerns lenkten11. Bis September 1950 fanden allein 1,92 Millionen Heimatvertriebene in Bayern eine neue Heimat und machten mit 21,1 Prozent einen hohen Anteil an der bayerischen Bevölkerung aus12. Im Vergleich zur Stadt lässt sich eine gewisse grundsätzliche Gegenläufigkeit des Integrationsablaufes und der ihn prägenden Merkmale feststellen. Nicht nur die Anzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen unterschied sich von der in städtischen Regionen, sondern auch die Art der Eingliederung, die in den ländlichen Regionen in erster Linie durch kulturelle und soziale Verwerfungen bestimmt war. Der Zuzug von Fremden war vor 1945 eher eine Seltenheit gewesen, so dass die Bevölkerung Heimatvertriebenen gegenüber sehr misstrauisch war. Das Dorf als homogene Einheit sah in den Flüchtlingen und Vertriebenen eine Bedrohung des traditionellen Lebensraums. Die bewährte dörfliche Ordnung sollte durch die Ankunft der Fremden und durch das Auftreten fremder Kulturen und Bräuche keinesfalls erschüttert werden. Anders als im Ruhrgebiet teilten einheimische und neu hinzugekommene Menschen im ländlichen Raum selten ähnlichen Erfahrungen, Arbeitsfelder oder Prägungen. Stattdessen stießen hier oftmals gleich mehrere Welten aufeinander. Bodenständige und Entwurzelte, Besitzende und Mittelose oder Protestanten und Katholiken. Beide Seiten hatten grundverschiedene Normen und Leitbilder sowie politische Traditionen und Bräuche13.
Diese prallten nun aufeinander und wirkten sich in den ländlichen Gegenden sehr viel belastender für das Zusammenleben aus als in großstädtischen Gebieten, die aufgrund der sozialen Mobilität eher eine „Traditionslosigkeit“ aufwiesen.
14. Die deutlich verspürte Ablehnung und das geringe Verständnis der Einheimischen führten bei den Flüchtlingen und Vertriebenen auf dem Land dazu, dass sie eine weitaus längere Heimatverbundenheit als ihre Landsleute in der Stadt hegten und im direkten Vergleich viel länger die ungebrochene Hoffnung pflegten, möglichst bald wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Verstärkt wurden die Konflikte vor allem auch durch die hohe Arbeitslosigkeit der Flüchtlinge. Neben dem allgemeinen Arbeitsplatzmangel wirkte sich problematisch aus, dass ein Großteil mit den gelernten industriellen und handwerklichen Qualifikationen in den bayerischen Gemeinden ohne gewerbliche und industrielle Beschäftigungs- und Gründungsmöglichkeit keine Arbeit fand15.
Die genannten Verhältnisse auf dem Dorf führten zu einer länger währenden Anlaufzeit, was sich zwar zunächst als Bremse der Integration erwies, langfristig aber keine erheblichen Konsequenzen für den Integrationsprozess hatte16. Nach der ersten Phase einer verstärkten Abwehr und Abschottung wurden aber allmählich gewisse Anknüpfungspunkte gefunden und die Alteingesessenen begannen, sich den fremden Orientierungen zunehmend zu öffnen. Es kam zu einer gegenseitigen Durchmischung und Durchdringung verschiedener Bereiche und Traditionen17. Positiv wirkte sich jedenfalls auf ihr Ansehen aus, dass sie in eigenen oder gemischten Vereinen zunehmend führende Stellen übernahmen. Vor dem Hintergrund, dass die Position im Vereinsleben traditionell den Status im Dorf mit beeinflusste, wurden Flüchtlinge und Vertriebene durch die Mitgliedschaft und Mitarbeit im Verein auch zu einem vollwertigen Mitglied der Dorfgemeinschaft18. Durch den Beitritt in den ländlichen Verein konnten Flüchtlinge und Vertriebene also nicht nur neue Kontakte knüpfen, sondern vor allem in die inneren Kommunikationskreise des Dorfes vordringen und damit entscheidend ihre Statusbildung vorantreiben19.