Mit Kriegsende kamen die ersten Flüchtlinge nach Hattingen und bildeten die Spitze eines Zustroms, der bis in die frühen sechziger Jahre andauern sollte.1 Neben der Versorgung war ihre Unterbringung ein zentrales Problem, da die meisten Wohnungen auch hier während des Krieges zerstört oder schwer beschädigt worden waren.2 Die Henrichshütte konnte der Gemeinde bei der Beseitigung dieses Mangels helfen, da sie über ein Barackenlager in Werksnähe verfügte, in dem zuvor Zwangsarbeiter untergebracht waren. Dort sollten, von der Hütte finanziert und behördlich bezuschusst, 380 möblierte Wohnungen für Ostflüchtlinge eingerichtet werden.3 Zwar waren noch durch Bombenangriffe entstandene Schäden an Fenstern, Türen und Dächern der Baracken zu beseitigen und ein massiver Ungezieferbefall zu bekämpfen4, aber die Werksleitung gab sich optimistisch, in relativ kurzer Zeit mehrere hundert Wohnungen zur Verfügung stellen zu können.5 Darüber, wer die Wohnungen anmieten durfte, sollten Hütte und Gemeinde gemeinsam entscheiden.6 Für die Werksleitung bot sich damit die Möglichkeit, vorsorglich Facharbeiter in Werksnähe anzusiedeln, um dann bei Wiederaufnahme der Produktion einen erhöhten Arbeitskräftebedarf auffangen zu können. Gerechnet wurde mit einem Bedarf von mindestens 500–600 Facharbeitern7 mit voraussichtlich 1.500 bis 2.000 ebenfalls unterzubringenden Familienangehörigen. Mit der Einrichtung von Wohnungen im Barackenlager sollte ausreichend Wohnraum für diese zukünftigen Arbeiter geschaffen werden.
Anders als erwartet fanden sich unter den ersten eintreffenden Flüchtlingen jedoch weder potenzielle Hüttenarbeiter noch überhaupt ausreichend Männer. Es waren vor allem Frauen und Kinder, aus denen man, wie ein Vertreter der Henrichshütte bemerkte, frühestens in zehn Jahren Facharbeiter machen könne.8 Noch dazu waren die Lager-Wohnungen bei Flüchtlingen wie ausgebombten Einheimischen so unbeliebt, dass sie sich trotz Wohnraummangels nur schwer vermieten ließen.9
Warum die britische Militärregierung eine Genehmigung nur für Reparaturarbeiten erteilte, wusste die Werksleitung seit Kriegsende. Bei einer Unterredung mit dem britischen Ortskommandanten war die drohende Teildemontage oder sogar vollständige Stilllegung des ehemaligen Rüstungsbetriebes zur Sprache gekommen, und unmittelbar nach der Einnahme Hattingens hatten britische Soldaten bereits eine technologisch interessante Anlage zum Bohren von Geschützrohren abtransportiert.14 Unbeeindruckt von diesen drohenden Vorzeichen gingen Gemeinde und Werksleitung dennoch davon aus, dass die Zukunft der Hütte angesichts ihrer Bedeutung für die Region gesichert sei. Dementsprechend wurden die Vorbereitungen für eine vollständige Wiederinbetriebnahme aller Werksteile fortgesetzt, die – abhängig von der alliierten Genehmigung – noch im Laufe des Jahres 1946 stattfinden sollte.15 Diese Genehmigung stand jedoch weiter aus, und auch die Teilgenehmigung zur Reparatur von Eisenbahnmaterial wurde mehrmals wieder entzogen, um in der Regel kurz darauf wieder erteilt zu werden.
Die Arbeiter, die man bei den wenigen erlaubten Arbeiten in der Anfangszeit nicht einsetzen konnte, kamen bei einer Tochtergesellschaft unter, die bei den Belegschaften „Schrottaktion“ genannt wurde.16 Die „Schrottaktion“ sollte Aufräumarbeiten auf dem Werksgelände vornehmen und konnte für diese Arbeiten sogar einige zusätzliche Arbeitskräfte einstellen. Sie diente aber vor allem dazu, die eigenen Arbeitskräfte bis zur vollständigen Inbetriebnahme des Werkes beisammen zu halten.
Die Eisenbahnreparaturen als Deckmantel nutzend, konnte die Hütte im Laufe des Jahres 1946, wie beabsichtigt, immer mehr Produktionsanlagen in Betrieb nehmen, dadurch mehr Arbeiter beschäftigen und die Genehmigung von reinen Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten auf die Herstellung von Eisenbahn- und Bergbaumaterial ausweiten.17 Die Schmiede lief wieder an und in kleinen Mengen wurde sogar Stahl erzeugt. Die Lage des Werkes schien sich stetig zu verbessern. Die Hütte hatte gelegentlich Schwierigkeiten, die mit der Reichsbahn und der britischen Militärregierung vereinbarten Ziele bei der Eisenbahninstandsetzung zu erreichen.18 Im März 1946 erhielt sie dennoch den Status einer „Reichsbahn-Spezialfirma“, womit sich eine bevorzugte Behandlung des Werkes von Seiten der Alliierten verband. Das stets drohende und mehrfach vorübergehend angeordnete Stilllegen der Anlagen verlor damit viel von seinem Schrecken. Die Hütte hatte die Weichen in Richtung eines erfolgreichen Wiederaufbaus gestellt und schaute trotz aller Probleme zuversichtlich nach vorn.
Für die britische und amerikanische Zone war ein neuer Industrieplan aufgestellt worden, der davon ausging, dass die britische und amerikanische Besatzungszone über ein größeres Industriepotenzial verfügten als in den nächsten sechs Jahren notwendig sei. Der Industrieplan legte daher Obergrenzen unter anderem für die Eisen- und Stahlindustrie fest. Überflüssige Anlagen, die zur Erreichung dieser Kapazitätsgrenzen nicht benötigt würden, sollten demontiert und als Reparationsleistung an durch Deutschland geschädigte Länder übergeben werden. Im Anschluss plante man den verbliebenen Rest der deutschen Industrie mit Krediten aus den USA und Großbritannien wieder in Schwung zu bringen. Robertson bat dabei um Zusammenarbeit zwischen deutschen und alliierten Stellen und drohte gleichzeitig, „wenn es statt Zusammenarbeit Konflikte gibt, verschwindet jede Hoffnung, die deutsche Wirtschaft wieder zu beleben.“20
Um Gewissheit darüber zu erlangen, ob auch die Henrichshütte demontiert werden sollte, mussten die Hattinger nach der Ansprache noch drei Tage warten, bis schließlich die Demontageliste mit den abzubauenden Anlagen im Rundfunk verlesen wurde. Die Liste benannte 682 in der britischen Zone zu demontierende Werke, darunter an Stelle Nr. 57 die Henrichshütte: Hochöfen, Stahlwerke, die Stahlgießerei und Grobblechwalzwerke sollten abgebaut und ins Ausland gebracht werden. Nach der Durchführung dieser Pläne wäre die Hütte nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben gewesen und Hattingen hätte seinen Haupt-Arbeitgeber und Steuerzahler verloren. „Hattingen würde dem Elend anheim fallen“, schlussfolgerten die Ruhrnachrichten.21
Nach Verkündung der Demontagevorhaben ordnete die Militärregierung dann auch recht schnell eine sofortige Stilllegung des gesamten Werkes inklusive der Eisenbahn-Reparaturwerkstätten an. Damit begann für die Henrichshütte eine zweijährige Phase intensivsten Ringens um den Erhalt des Werkes und seiner Arbeitsplätze. Zunächst änderte sich allerdings nicht viel, da das Werk nach kurzer Zeit des Stillstands bis zur endgültigen Entscheidung über den genauen Ablauf der Demontagen weiter produzieren durfte.22 Der Belegschaft drohte jedoch mit der teilweisen oder sogar völligen Schließung der Hütte die Kündigung. Erste Zahlen, die in diesem Zusammenhang veröffentlicht wurden, nannten 1.500 Arbeiter, die unmittelbar nach der Demontagephase zu entlassen seien.23 Die restlichen Arbeiter hätten nur weiterbeschäftigt werden können, wenn das Werk danach überhaupt noch wirtschaftlich zu betreiben gewesen wäre. An Neueinstellungen aus den Reihen der über tausend Flüchtlinge, die sich bis dahin schon in Hattingen angesiedelt hatten24, war unter diesen Voraussetzungen kaum zu denken, auch wenn es Einzelnen trotzdem gelang, eine der seltenen freien Stellen zu ergattern. Hattingen bot durch seine Lage am Rand des Ruhrgebiets und der Entfernung zu anderen Zentren der Schwerindustrie neben der Henrichshütte kaum Beschäftigungsmöglichkeiten, nicht einmal für einen Teil der zu entlassenden Arbeiter.25 „Da haben wir kolossale Angst gehabt, dass wir arbeitslos würden. Und wir haben überhaupt keine Möglichkeit gesehen, irgendwo anders eine Arbeit zu bekommen“26, erinnert sich ein ehemaliger Dreher.
Es waren aber weniger die persönlichen Ängste der Arbeiter als vielmehr ökonomische Argumente, die in den USA auf Gehör stießen. Nachdem die Ideen des Morgenthau-Plans an Einfluss verloren hatte und das European Recovery Programme anlief, besser unter dem Namen seines Begründers als Marshall-Plan bekannt, fragten immer mehr Stimmen in den USA, ob eine Finanzierung des Wiederaufbaus und Demontagen zur gleichen Zeit überhaupt Sinn machten. Genährt wurde diese Kritik durch eine rege Öffentlichkeitsarbeit von deutscher Seite, die mit Beteiligung der betroffenen Industriebetriebe, deren Verbänden, politischen Vertretern und Unterstützung durch Kommunen, private und kirchliche Initiativen jeden verfügbaren Auslandskontakt nutzten, um eine Anti-Demontage-Stimmung zu fördern.
Diese Bemühungen blieben nicht ohne Folgen. Die amerikanische Historikerin Freda Utley veröffentlichte 1949 ihre vielbeachtete Studie „The High Cost Of Vengeance“, die in Deutschland unter dem Titel „Kostspielige Rache“ erschien. Sie stellte damit den amerikanischen Demontagegegnern eine umfangreiche Argumentationsbasis zur Verfügung und förderte mit Hilfe einiger anderer Autoren letztendlich ein Umdenken auf breiter Ebene, das auch Großbritannien erreichte.
Für die Henrichshütte waren die Demontagen bis ins Frühjahr 1949 nur eine leere Drohung geblieben. Zwar inventarisierte die zuständige britische Militärbehörde, die Reparations Delivery and Restitution-Branch, Anlagen der Hütte und teilte sie sogar schon Empfängerländern zu.28 Der tatsächliche Demontagebeginn verschob sich jedoch immer wieder. Im Mai 1949 spitzte sich die Situation dann deutlich zu: Eine alliierte Kommission verkündete den sofortigen Beginn der Demontagearbeiten und ließ ihren Worten – anders als in den Monaten zuvor – auch Taten folgen. Am 10. Mai löste eine aus Arbeitern deutscher Abrissunternehmen zusammengesetzte Demontagekolonne die ersten Schrauben einiger Anlagen von den Fundamenten.29 Ein Siemens-Martin-Ofen, eine Grobblechstraße und einige Werkzeugmaschinen wurden im Anschluss binnen weniger Wochen demontiert.
Die Arbeiter der Henrichshütte kommentierten das Vorgehen der Demontagefirmen und ihrer Arbeiter zwar mit verbalen Anfeindungen, blieben aber insgesamt friedlich – im Gegensatz zu den Beschäftigten anderer Unternehmen. Diese schreckten, bestärkt von einer aufgebrachten Öffentlichkeit, gelegentlich auch vor Gewalt gegen die Demontageunternehmer nicht zurück.30 Sogar Staatsanwälte hetzten ungeachtet der Rechtslage gegen die „Plünderer“ 31 und „Kriegsverbrecher“32, die sich an den Demontagen beteiligten, und forderten eine Verurteilung vor dem Internationalen Kriegsverbrechergerichtshof in Nürnberg. In Dortmund erschienen Flugblätter mit den Namen und Anschriften deutscher Demontageunternehmer und beschimpften diese als „Volksverräter“33. In einigen Werken mussten alliierte Soldaten sogar mit Panzern auffahren, um die Belegschaften unter Kontrolle zu bringen.
Während die Werksleitung der Hütte bei anderen Werken nach geeigneten Austauschobjekten suchte und bei ihren Vorschlägen an die Militärregierung gelegentlich vergaß, das Einverständnis der betroffenen Betriebe einzuholen35, begann auch die Landespolitik sich verstärkt für die Henrichshütte zu engagieren. Wirtschaftsminister Nölting besuchte mehrfach das Werk, sprach der Belegschaft Mut zu und konnte tatsächlich im Juli 1949 eine vorübergehende Aussetzung der Demontagen erreichen. Die Gemeinde nutzte die anschließende Pause, um Militärregierung und internationale Öffentlichkeit auf die Wichtigkeit und einzigartige Bedeutung der Henrichshütte für umliegende Industriebetriebe, Zechen und die Bevölkerung der Region hinzuweisen.36
Dass es binnen weniger Monate nach Beginn der Demontagearbeiten zur Rettung der Hütte kam, war allerdings kein Verdienst, den sich die lokalen Akteure zuschreiben konnten, auch wenn sie es später tun sollten. Es waren vielmehr Veränderungen der weltpolitischen Lage, die das Ende der Demontagepolitik herbeiführten. Im Herbst 1949 wurde aus den westlichen Besatzungszonen die Bundesrepublik Deutschland gebildet. Vom besiegten Kriegsgegner, dessen Wiedererstarken man fürchten musste und verhindern wollte, entwickelte sich der westliche Teil Deutschlands allmählich zu einem Alliierten möglicher künftiger Auseinandersetzungen mit dem Ostblock und sollte dafür eine ausreichende wirtschaftliche Stärke erhalten. In dieser veränderten Konzeption hatten Demontagen keinen Platz mehr und wurden mit dem Petersberger Abkommen am 22.11.1949 offiziell beendet.
Der Beginn des Koreakrieges erhöhte dann die Nachfrage nach hochwertigen Stählen auf dem Weltmarkt, die für Rüstungsgüter geeignet waren. Deutschland war eines der wenigen Länder mit freien Kapazitäten zu ihrer Herstellung. Gleichzeitig konnte der amerikanische Konsumgütermarkt nicht aus eigener Produktion bedient werden und war auf den Import – unter anderem auch wieder aus Deutschland – angewiesen. Nach und nach gestattete die Alliierte Hohe Kommission daher stillschweigend eine Produktionsausweitung und letztendlich die Überschreitung der Stahlquote, womit eine der bedeutendsten wirtschaftlichen Fesseln der Nachkriegszeit beseitigt wurde.37
Die Stahlindustrie an Rhein und Ruhr konnte binnen weniger Jahre ihre internationale Spitzenstellung zurückgewinnen und sich zu einem der wichtigsten Motoren des Wirtschaftswunders entwickeln. Dieser Aufschwung war aber nur mit einem gezielten Ausbau der Belegschaften zu bewältigen. Da dazu die einheimischen Kräfte nicht ausreichten, wurden in mehreren großen Umsiedlungs- und Arbeitsbeschaffungsprogrammen auch Tausende von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Aufnahmeländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern sowie aus Nordrhein-Westfalen angeworben. Diese Programme sollten zwischen 1951 und 1953 unter anderem die so genannten Großbedarfsträger (neben der Stahlindustrie waren das der Bergbau, die Bundesbahn und die Bundespost) mit zusätzlichen Arbeitskräften versehen und die Zuwanderer in Arbeitsplatznähe mit Wohnraum versorgen. Dazu erhielten die Großbedarfsträger eigene Wohnungsbaumittel.38 Auch in Hattingen entstand eine Vielzahl neuer Wohnungen, die bevorzugt Flüchtlingen und Vertriebenen zugeteilt wurden.39 Aufgrund des anhaltenden und nun auch zunehmend durch DDR-Flüchtlinge verstärkten Zuwandererstroms konnte der Wohnungsbau hier jedoch trotz Tausender neuer Wohnungen nicht mit den wachsenden Einwohnerzahlen mithalten und alle ordentlich unterbringen.40 Für die Henrichshütte bot sich damit letztlich doch noch die Chance, nun endlich ihr bis dahin zeitweise leerstehendes Barackenlager zu nutzen.41