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Die Textilindustrie: „...der nächst Nahrung und Wohnung wichtigste Verbrauchsgüterzweig“

Arnold Lassotta


Nähsaal der Firma Winkler in Bielefeld, 1946. Die Firma produzierte Taschentücher aus Baumwolle.
Nähsaal der Firma Winkler in Bielefeld, 1946. Die Firma produzierte Taschentücher aus Baumwolle. Foto: Privatbesitz

Neuordnung der Textilindustrie nach 1945

Als das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung nach acht Wiederaufbaujahren 1954 eine Analyse der Textil- und Bekleidungsindustrie vorlegte, zeigte sich, dass die Textilindustrie in Punkto Beschäftigte und Umsatz an der Spitze der westdeutschen Industrie stand: Mit 597.100 Beschäftigten übertraf sie den Maschinenbau (585.900) und den Kohlenbergbau (565.000). Zusammen mit der Bekleidungsindustrie, die unter den Verbrauchsgüterindustrien den zweiten Rang einnahm, lag ihr Umsatz 23 % über dem des Maschinenbaus und war 2 ¼ mal so hoch wie der des Kohlenbergbaus.1

Die westdeutsche Textilproduktion zeichnete sich nach dem Wiederaufbau durch eine „kaum noch übersehbare Vielfalt von Erzeugnissen“ aus.2 Flüchtlinge und Vertriebene hatten dazu nicht wenig beigetragen – als Unternehmer wie als Arbeitnehmer.3 Unter den im Jahre 1950 statistisch erfassten 5.021 Firmen von Vertriebenen und Zugewanderten (gemeint sind SBZ/DDR-Flüchtlinge) dominierte die Textil- und Bekleidungsindustrie4 mit 1.512 Gründungen.5 Als arbeitsintensive Industrie benötigte sie zahlreiche Arbeitskräfte, die vielfach nur angelernt werden mussten und konnte daher auch größere Mengen von Heimatvertriebenen zügig in den Produktionsprozess eingliedern.6

Der Leistungs- und Sozialbericht der Firma M. van Delden & Co. in Gronau/Westfalen beispielsweise zählt für den 31. Dezember 1949 unter 1.771 Belegschaftsmitgliedern 324 oder 18,3 % aus dem Osten vertriebene Mitarbeiter. Von ihnen hatten 60 (18,5 %) bereits in der Textilindustrie gearbeitet, 59 (18,2 %) waren Angehörige landwirtschaftlicher Berufe, 36 (11,1 %) kamen aus technischen Berufen (Schlosser, Schmiede, Elektriker), 34 (10,5 %) aus dem kaufmännischen Bereich, 42 (13 %) waren vor der Einstellung noch schulpflichtig.7

Der relativ hohe Anteil ehemaliger Textilarbeiter und -arbeiterinnen (einschließlich Färber, Drucker und Schneiderinnen) bei van Delden erklärt sich zum einen aus dem Wunsch der Betroffenen, im erlernten Beruf zu arbeiten, zum anderen aus dem Fachkräftebedarf des Werkes. Über Facharbeitermangel klagte die Textilindustrie schon im Frühjahr 1947. Alle Fachkräfte, vor allem die sudetendeutschen Arbeiter und Arbeiterinnen, die zur Zeit berufsfremd beschäftigt waren, sollten wieder ihrer alten Tätigkeit zugeführt werden.8 Hintergrund dieses Mangels war die Tatsache, dass die Textilindustrie während des Krieges unter allen Wirtschaftskreisen „den stärksten Arbeitskräfteverlust erleiden“ musste: durch Einberufung der Männer zur Wehrmacht ebenso wie durch Arbeitsverpflichtungen von Frauen für die Rüstungsindustrie. Den 281.000 Arbeitern und Angestellten, die 1938 auf dem Gebiet der späteren britischen Zone in der Textilindustrie beschäftigt waren, standen Ende 1946 nur noch 124.000 gegenüber, d. h. weniger als die Hälfte.9

Ersatz im Kreis der Vertriebenen zu finden, war aber nicht so einfach. Zwar gab es unter ihnen verhältnismäßig viele Textilarbeiter, doch sie kamen häufig aus textilen Arbeitsbereichen, die es in Westdeutschland nicht gab, so dass ihre Qualifikation nicht den Bedürfnissen der einheimischen Textilindustrie entsprach. Die Textilindustrie gehört zu den differenziertesten Industrien überhaupt.10 Sie verarbeitet mit Wolle, Baumwolle, Flachs, Kunst- und anderen Fasern eine Vielzahl von Materialien, setzt mit Spinnen, Weben, Wirken, Stricken, Sticken, Färben oder Drucken sehr unterschiedliche Technologien ein und produziert eine breite Palette von Stoffen und Geweben.

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Regionale Zentren

Während der Industrialisierung hatte sich die Textilindustrie regional sehr unterschiedlich entwickelt. In manchen Gebieten gar nicht vorhanden, prägte sie in anderen die Wirtschaft monostrukturell. Die Flachsverarbeitung konzentrierte sich in Schlesien und Ostwestfalen, die Seidenindustrie in und um Krefeld. Im Erzgebirge und im Wuppertaler Raum dominierte die Herstellung von Bändern und Posamenten. Die Baumwollverarbeitung konzentrierte sich im Westmünsterland und im Rheinland, die Wollindustrie in der Niederlausitz, in Sachsen und im Rheinland. Strümpfe, Gardinen und Stickereien kamen vor allem aus Sachsen und dem Sudetenland. Wie sich die textilen Produktionskapazitäten vor dem Krieg auf das Gebiet der drei Westzonen bzw. die SBZ und die an Polen gefallenen Provinzen verteilten, zeigt die folgende Grafik zu den Folgen der Zonentrennung.11

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Zahlreiche Zweige der Textilindustrie hatten ihren Schwerpunkt in Sachsen, Thüringen und dem südlichen Brandenburg, also dem Gebiet der SBZ/DDR.12

Dazu gehörten die Kleiderstoffweberei, die Teppich- und Möbelstoffindustrie, die Kammgarnspinnerei, die Stickerei- und Spitzenherstellung, die Wirkerei und Strickerei. Auf dem Gebiet der Strumpf- und Handschuhwirkerei und der Gardinen- und Tüllweberei hatte Sachsen geradezu ein Monopol. Bei Einbeziehung des Sudetenlandes ist die Ungleichverteilung noch auffälliger. Der Verlust der östlichen Provinzen, die Vertreibung der Bevölkerung sowie die Spaltung des übrigen Landes samt Demontage und Sozialisierung in der SBZ/DDR mit folgender Massenflucht zerstörten das „in sich weitgehend verflochtene“ deutsche Wirtschaftsgebiet nachhaltig.13

Auf der anderen Seite lebten in Westdeutschland als Folge der Vertreibung und der andauernden Fluchtbewegung aus dem russischen Einflussgebiet ca. 70 % der gesamten deutschen Bevölkerung. Deren Versorgung mit Textilien allein aus westdeutscher Produktion wäre angesichts der ungleichen Verteilung der Kapazitäten selbst dann nicht möglich gewesen, wenn die dortige Textilindustrie keine Kriegsschäden erlitten hätte. Diese Ausgangslage eröffnete vertriebenen Fachleuten und Unternehmern gute Chancen für einen Neuanfang im Westen. Dabei kamen sie Plänen und Wünschen entgegen, „die (aus der Not eine Tugend machend) auf den Aufbau leistungsfähiger Spezialzweige mit überkommenem Weltruf gerichtet“ waren.14 Entsprechend wurde z. B. die Ansiedlung der sudetendeutschen Handschuh-, Kunstblumen-, Klöppelspitzen-, Taschentuch-, Posamentengewerbe vor allem in Bayern „als großer Gewinn für die künftige Ausfuhr“ gewertet.15

Exporterlöse zu erzielen, mit denen die dringend benötigten Lebensmittel und Rohstoffe bezahlt werden konnten, war eines der großen Ziele der deutschen Wirtschaftspolitik. Eine Berechnung vom Frühjahr 1947 besagte, dass 110 Tonnen Kohle 1.980 RM einbrächten. Mit dieser Menge Kohle konnten aber in einer Woche 60 Tonnen Garn im Wert von 180.000 RM erzeugt werden, aus diesem Garn wiederum Gewebe im Wert von 600.000 RM.16 Die „arbeitsbetonte Spinnstoffindustrie“ mit ihrer hohen Wertschöpfung (das sechsfache des Einfuhrdurchschnittwertes) galt als dazu berufen, „Veredlung für den Weltmarkt zu treiben und in Umkehr alter ‚Regeln’ nach Möglichkeit zum Devisenschöpfer zu werden“.17

Nicht anders sah es der Amerikaner Howard Veit, Chef der „Bipartite Control Group Textile Branch“: Es „werde sein Bestreben sein, die deutsche Textilindustrie wieder in die Weltwirtschaft einzuschalten und auf Touren zu bringen. Da in der ganzen Welt Warenhunger herrsche und Rohstoffe auf dem Weltmarkt zur Verfügung ständen, dürfte die deutsche Textilindustrie und die sie betreuenden Herren der amtlichen Stellen nicht die Hände in den Schoß legen“.18

Daneben mussten die Engpässe in der Versorgung der Bevölkerung beseitigt werden. Da die wirtschaftliche Einheit Deutschlands nicht wiederhergestellt wurde,19 musste das im Osten verloren gegangene Potential durch Neugründungen und Erweiterungen vorhandener Kapazitäten so weit wie möglich ersetzt werden. „Insofern kann man von einer Ost-Westverlagerung der textilindustriellen Produktion sprechen“.20

In vielen Bereichen fand ein völliger Neuaufbau statt, insbesondere in der Taschentuch-, Strumpf- und Gardinenproduktion.

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Taschentücher aus der Produktion der Gustav Winkler GmbH
Taschentücher aus der Produktion der Gustav Winkler GmbH & Co. KG, Aalen, 1950er–1970er Jahre. Objekte: Privatbesitz. Foto: Martin Holtappels

Neue Produkte aus dem Osten

Taschentücher waren Spezialartikel, die bis zum Kriegsende nahezu ausschließlich im Osten hergestellt worden waren. „Was Lauban für Schlesien und Deutschland, das war Hohenelbe (Riesengebirge) für das alte Österreich bzw. für die Tschechoslowakei. Beide Städte und Kreise waren weltberühmte Zentren der Taschentuchindustrie“.21

Während in Lauban neben leinenen auch Baumwolltücher hergestellt wurden, kamen aus Hohenelbe feine und feinste Tücher aus Leinen und Halbleinen, die zu über 80 % in den Export gingen. Ein umfangreicher „Produktionskomplex“ im Kreis Hohenelbe, bestehend aus Spinnereien, Webereien, Veredelungs- und Konfektionsbetrieben, beschäftigte rund 10.000 Menschen. In Lauban sah es ähnlich aus.22 Das bedeutendste Unternehmen waren hier die Gustav Winkler Textilwerke mit 16 Fabriken in Lauban und Umgebung und 8.700 Mitarbeitern vor Kriegsende.23

Nach dem Krieg gab es Überlegungen, die Laubaner Taschentuchindustrie geschlossen in Nordrhein-Westfalen anzusiedeln, was jedoch nicht zur Ausführung kam.24

Allein die Firma Gustav Winkler errichtete in Bielefeld ein neues Taschentuchwerk.25 Der Schwerpunkt ihres Neuanfangs im Westen lag jedoch in Süddeutschland.26 Andere ehemals Laubaner Firmen gründeten neue Werke in Mörlenbach bei Weinheim und in Göppingen.27 Die Hohenelber Taschentuchbetriebe versuchten den Neuaufbau in Heidenheim, Bühl am Albsee bei Immenstadt und in Marktoberdorf.28

Auch die Strumpfindustrie (feine Damenstrümpfe, Herrensocken) musste im Westen „buchstäblich aus dem Nichts“ geschaffen werden. 29 Die Firmen Kunert, die im nordböhmischen Warnsdorf die größte Strumpffabrik Europas betrieb30, Elbeo (Louis Bahner, Oberlungwitz) und Ergee (Rössler, Gelenau) produzierten, wie viele mittlere oder kleinere Familienunternehmen auch, vor 1945 im Sudetenland oder in Sachsen, wo sie nach Kriegsende enteignet oder vertriebenen wurden. Binnen weniger Jahre bauten sie mit Tausenden von Fachkräften, die mit ihnen in den Westen kamen, eine neue Strumpfindustrie auf.31 Die Anfänge waren meist bescheiden, die Erfolge, auch der kleineren Firmen, jedoch beachtlich. Aus Freiberg, Sudetenland, kam zum Beispiel die Firma Jüttner und begann den Aufbau einer mechanischen Wirkerei und Strickerei im Lagerhaus der Höchstetter Brauerei in Cham mit nur einer Maschine. Mitte 1948 liefen bereits 30 Maschinen; 40 Beschäftigte arbeiteten in zwei Schichten.32 Im Oktober waren es bereits 100 Beschäftigte. Angekündigt wurde die Produktion „hauchdünne(r) Seidenstrümpfe“ auf in England bestellten Maschinen. Ein Filialbetrieb in Miltach mit 150 Mitarbeiterinnen war in Planung.33

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Mit Strümpfen konnte man in den 1950er Jahren Geld verdienen – bis sich die Mode änderte. Die nun gefragten nahtlosen (rundgestrickten) Strümpfe und Strumpfhosen ließen sich nicht auf den gleichen Maschinen anfertigen wie die (flachgewirkten) Nahtstrümpfe. Nach dem Krieg mühsam, z. T. sogar aus dem Ausland beschaffte und über 100.000 DM teure34 Cottonmaschinen standen still, zahlreiche Unternehmen mussten Konkurs anmelden.35 Zwischen 1950 und 1960 ging die Zahl der Feinstrumpffabriken von 150 auf 110 zurück, bis in die 1980er Jahre schrumpfte sie auf gerade ein Dutzend Firmen.

Neben Strümpfen gehörten auch andere Wirk- und Strickwaren auf Grund der Zonentrennung zu den besonderen Mangelartikeln. Der Bedarf an Unterwäsche etwa rangierte in den ersten Nachkriegsjahren vor jedem anderen Textilbedarf,36 die Wirkereikapazitäten mussten erheblich erweitert werden. Wuppertal, die Stadt der Barmer Artikel (Band- und Flechterzeugnisse, Posamenten, Klöppelspitzen) und einer Spezial-Wirkwarenproduktion bot günstige Vorbedingungen für die Herstellung von Unter- und Oberbekleidung und natürlich auch wieder Strümpfen. „Es haben sich ganz in der Stille in Wuppertal einige Firmen aus dem Osten mit einem kleinen Stamm bewährter Fachleute niedergelassen, um eine Strumpf-, Strick- und Wirkwaren-Fabrikation aufzubauen. [...] Diese Betriebe laufen seit Anfang 1947“, heißt es in den Textil-Mitteilungen Anfang 1948.37 Die ohnehin schon breite Produktpalette der Stadt erhielt so noch einmal eine wesentliche Bereicherung.

Ein vollkommen neuer Produktionszweig im Westen war auch die Gardinenindustrie – wie die Strumpfindustrie eine sächsische und sudetendeutsche Spezialität. Bei den Neugründungen handelte es sich zum größten Teil um Flüchtlingsunternehmen, die ihre enteigneten Betriebe in der Regel mit einem Stamm bewährter Fachkräfte aus dem alten Werk neu aufbauten. Teilweise stammte die Technologie dieser Produktion – dies betrifft die großen und teuren Bobinetwebmaschinen – aus England und konnte ebenfalls nur aus dem Ausland, zunächst in Form gebrauchter Maschinen, bezogen werden.38 Der Aufbau dieser Industrie war deshalb 1953, dem Jahr der eingangs genannten Bilanz, noch nicht abgeschlossen.39 Die erste im Westen errichtete Bobinetweberei war die Deutsche Bobinet-Industrie GmbH in Trier, die 1950 auf dem ersten Bobinet-Gardinenwebstuhl Westdeutschlands die Produktion aufnahm.40 Andere Firmen wie die Oberndorfer Gardinen- und Spitzenweberei (Ogus) in Oberndorf am Neckar oder die Bobinetabteilung des Reichel-Textilwerks in Rheinberg kamen hinzu.

„Flüchtlingsfleiß“ konnte sich auch in bestehenden westdeutschen Betrieben mit ursprünglich anderer Produktion innovativ auswirken, wie das Beispiel der Firma Heinrich Schulte in Duisburg-Homberg zeigt. Gegründet wurde sie als Fabrik für Damenfahrradnetze. Nach dem Krieg begann man mit Hilfe von aus der SBZ geflohenen vogtländischen Gardinenfachleuten auf den gleichen Maschinen mit der Herstellung gemusterter Häkel-Galongardinen, bekannt als „Rheinland-Gardinen“.41

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Zu den außerhalb der drei westlichen Besatzungszonen dominierenden Zweigen der Textilbranche gehört schließlich noch die Wollindustrie mit Anteilen von 60 und mehr Prozent der Beschäftigten. Bedeutende Betriebe gab es überdies im Sudetenland. Nach 1945 kam es auch auf diesem Sektor der Textilindustrie zu zahlreichen Neugründungen im Westen.42

Diesen Initiativen kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Die bedeutendste textile Metropole des Ostens – außerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes gelegen – und das Fortleben ihrer Industrie im Westen soll aber erwähnt werden: Lodz in Mittelpolen.43

Hier existierte eine riesige und vielseitige Textilindustrie in der Hand auch deutscher Unternehmer und mit deutschen Fachkräften, die 1945 verloren ging. Nicht wenige der vertriebenen Lodzer Fabrikanten begannen nach 1945 im Westen mit dem Aufbau neuer Betriebe, unter anderem in Gelsenkirchen, Essen, Düsseldorf, Dülken und – Wilhelmshaven. Hier waren 95 % der Wirtschaft auf die Kriegsmarine und die Werft ausgerichtet. Das Kriegsende entzog den nach Auflösung der Garnison verbliebenen 90.000 Einwohnern die Existenzgrundlage. Eine Zeit lang waren 6.000 Arbeiter mit der Demontage der Militäranlagen beschäftigt. Die Ansiedlung einer lohn- und arbeitsintensiven Industrie wurde zur Lebensfrage. Gefunden wurde sie auch hier in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Im früheren Marine-Bekleidungsamt und der Marineoffiziers-Kleiderkasse entstand der Textilhof mit neu angesiedelter Bekleidungsindustrie,44 die ehemalige Hafenkaserne und die Werkstätten wurden Lodzer Fabrikanten übergeben, die darin eine Textilproduktion aufzogen. Im September 1948 zählte man bereits elf Hand- und mechanische Webereien, sieben Wirk- und Strumpffabriken und eine Textilmaschinenfabrik. Wilhelmshaven wurde zu einem Zentrum der neu aufgebauten Lodzer Textilindustrie, das auch zunächst andernorts angesiedelte Lodzer Betriebe anzog.45 500 Männer und Frauen bildeten den ersten Stamm der Wilhelmshavener Textilarbeiterschaft.

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Durch den Neuaufbau der ostdeutschen Textilindustrie erhielt die westdeutsche Textilwirtschaft nicht nur die angesichts der gestiegenen Bevölkerungszahl notwendige quantitative Bereicherung, sondern auch eine qualitative Verbesserung ihrer Struktur. Die ungleiche Verteilung der Vorkriegszeit wurde weitgehend aufgehoben: Am Ende der Aufbaujahre gab es in Westdeutschland nahezu alle Produktionsarten, die vor dem Krieg über das ganze Reich verteilt waren. Die Zeitgenossen sahen das durchaus nicht unkritisch. Während die schlesische Textilindustrie schon 1948 eher dem „Verlustkonto“ zugeschrieben wurde, befürchtete man, dass die Zonentrennung eine mögliche „Quelle von Fehlentwicklungen“ sein werde. Die Aufsplitterung Deutschlands berge die Gefahr, „strukturelle Entwicklungen zu begünstigen, die sich später als dauernder Krebsschaden für die deutsche Volkswirtschaft auswirken können ... [Es] werden unter Umständen Anlagen gefördert, für die in einem wirtschaftlich geeinten Deutschland kein Bedürfnis verspürt werden würde.“46 Allerdings ließen die Engpässe auf allen Gebieten keine andere Wahl zu. Und noch etwas zeichnete sich ab, die schon 1951 absehbare Überlegenheit der neuen westdeutschen Industrie gegenüber den Stammbetrieben in den Herkunftsregionen: „Wenn auch von mancher Seite heute behauptet wird, ein Zusammenschluß Deutschlands wäre das Todesurteil für die westdeutschen Gardinenstoffhersteller, so glaube ich mit gutem Recht sagen zu können, dass sich diese Leute in einem Irrtum befinden. Wir haben uns nach dem Kriege die Erkenntnisse und die Erfahrung des Auslandes zunutze gemacht und unseren Betrieb wesentlich moderner aufgebaut, als man dies in Deutschland gewohnt war, und so glaube ich auch, dass wir gegen eine sächsische Konkurrenz, wenn diese unter denselben Bedingungen arbeiten muß wie wir, voll und ganz standhalten können.“47 40 Jahre später lag auch hier vielleicht eine der Ursachen für die Probleme beim Aufbau Ost.

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Biografien

Biografische Beispiele

Johann Schröter
Bernd Fischer
Manfred Grünwald
Emil Paul Dietzsch
Gustav Winkler
Herbert Reichel
Arthur R. Sadofsky
Erich Schwandtner

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Fußnoten

  1. Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung (Bearb.): Textil und Bekleidung. Rückblick – Stand – Ausblick für Industrie, Großhandel, Einzelhandel, München 1954, S. Q 41; Zur Textilindustrie vgl. auch Deppe, Peter: Die westdeutsche Textilwirtschaft im Wiederaufbau, in: Textilwirtschaft heute. Schriftenreihe der Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft an der Universität Münster, hg.v. H. Jecht, Bd.1, Stuttgart 1955, S. 35 ff.
  2. Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung (Bearb.): Textil und Bekleidung. Rückblick – Stand – Ausblick für Industrie, Großhandel, Einzelhandel, München 1954, S. Q 1.
  3. Flüchtlingsfleiß in neuer Heimat, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Jg. 6, Nr. 4, 25. Januar 1951, S. 5.
  4. In den Statistiken oft gemeinsam erfasst.
  5. Dittrich, Erich: Verlagerungen in der Industrie, in: Lemberg, Eugen und Friedrich Edding (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben. Bd. 2, Kiel 1959, S. 332.
  6. Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung (Bearb.): Textil und Bekleidung. Rückblick – Stand – Ausblick für Industrie, Großhandel, Einzelhandel, München 1954, S. Q 3.
  7. Wiedergeburt eines Werkes. 1945 – 1949. Leistungs- und Sozialbericht der Firma M. van Delden & Co., Wuppertal 1950, S. 14 f.
  8. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 2. Jg., Nr. 12 (51), 20. März 1947.
  9. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 2. Jg., Nr. 10 (49), 8. März 1947.
  10. Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung (Bearb.): Textil und Bekleidung. Rückblick – Stand – Ausblick für Industrie, Großhandel, Einzelhandel, München 1954, S. Q 1.
  11. Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung (Bearb.): Textil und Bekleidung. Rückblick – Stand – Ausblick für Industrie, Großhandel, Einzelhandel, München 1954, S. Q 6.
  12. Maschner, Hans: Der Schnitt durch die Textilindustrie, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Jg. 6, Nr. 4, 25. Januar 1951, S. 7/8, bes. Tabelle S. 8.
  13. Maschner, Hans: Der Schnitt durch die Textilindustrie, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Jg. 6, Nr. 4, 25. Januar 1951, S. 7.
  14. Gefügewandlungen der deutschen Textilwirtschaft, in: Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 9 (100), 3. März 1948, S. 2.
  15. Gefügewandlungen der deutschen Textilwirtschaft, in: Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 9 (100), 3. März 1948, S. 2.
  16. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 2. Jg., Nr. 16 (55), 17. April 1947.
  17. Gefügewandlungen der deutschen Textilwirtschaft, in: Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 9 (100), 3. März 1948, S. 2.
  18. Neue Textil-Zeitung, Berlin, 2. Jg., 5. Dezember 1947, S. 1.
  19. Vgl. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 1. Jg., Nr. 32, 7. November 1946.
  20. Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung (Bearb.): Textil und Bekleidung. Rückblick – Stand – Ausblick für Industrie, Großhandel, Einzelhandel, München 1954, S. Q 6.
  21. Neue Textil-Zeitung, Berlin, 2. Jg., Nr. 34, 22. August 1947, S. 3.
  22. Kasper, Klaus Christian: Lauban putzt(e) der Welt die Nase. Ein Rückblick auf die einstige „Taschentuchstadt Deutschlands“ von der Jahrhundertwende bis 1945, Bonn-Oberkassel 2000, S. 8 ff. Ca. 1/3 der 16 000 Einwohner lebte hier vom Taschentuch.
  23. Kasper, Klaus Christian: Lauban putzt(e) der Welt die Nase. Ein Rückblick auf die einstige „Taschentuchstadt Deutschlands“ von der Jahrhundertwende bis 1945, Bonn-Oberkassel 2000, S. 65.
  24. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, NW 7, Nr. 285, fol. 18. (24. April 1950).
  25. Gustav Winkler KG Taschentuchwerke, Bielefeld/Hillegossen. Festschrift zur Eröffnung des neuen Werks, Herbst 1961.
  26. Aalen, Blumberg und die bereits in den 1930er Jahren erworbene Lauffenmühle in Tiengen bei Waldshut.
  27. Bspw. August Lassmann bzw. Ambrosius Otto; vgl. Kasper, Klaus Christian: Lauban putzt(e) der Welt die Nase. Ein Rückblick auf die einstige „Taschentuchstadt Deutschlands“ von der Jahrhundertwende bis 1945, Bonn-Oberkassel 2000, S. 151.
  28. Neue Textil-Zeitung, Berlin, 2. Jg., Nr. 34, 22. August 1947, S. 3.
  29. Textil-Mitteilungen Düsseldorf, 2. Jg., Nr. 18 (57), 1. Mai 1947.
  30. Kunert Strumpf- und Trikotagenfabrik GmbH, Immenstadt/Allgäu. Die Firma wurde in den ehemaligen Berliner Physikalischen Werkstätten angesiedelt. Ende 1948 waren bereits 470 Mitarbeiter beschäftigt, eine Werkssiedlung befand sich unter Leitung des Warnsdorfer Architekten Dünebier im Aufbau. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 65 (156), 19. Oktober 1948, S. 5; vgl. auch Flüchtlingsfleiß in neuer Heimat, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Jg. 6, Nr. 4, 25. Januar 1951, S. 12.
  31. Meyer-Schneidewind, Mechthild und Ilona Sauerbier: Strümpfe. Mode, Markt und Marketing, Frankfurt/M. 1992.
  32. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 29 (120), 15. Juni 1948, S. 1.
  33. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 65 (156), 19. Oktober 1948, S. 5.
  34. Vgl. Anzeige über Angebot von gebrauchten Cottonmaschinen von Robert Reiner Incorporated Weehawken, New Yersey, USA, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., 6. Jg., Nr. 5, 1. Februar 1951, S. 8. Der Import von Cottonmaschinen wurde von Hans Thierfelder, dem Wiederbegründer der Arwa-Feinstrumpfwirkerei, Backnang, in den USA durchgesetzt; vgl. Maschner, Hans: Der Schnitt durch die Textilindustrie, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Jg. 6, Nr. 4, 25. Januar 1951, S. 5 und S. 8.
  35. Meyer-Schneidewind, Mechthild und Ilona Sauerbier: Strümpfe. Mode, Markt und Marketing, Frankfurt/M. 1992, S. 47–49.
  36. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 13 (104), 31. März 1948.
  37. Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 4 (95), 28. Januar 1948.
  38. Maschner, Hans: Der Schnitt durch die Textilindustrie, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Jg. 6, Nr. 4, 25. Januar 1951, S. 8.
  39. Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung (Bearb.): Textil und Bekleidung. Rückblick – Stand – Ausblick für Industrie, Großhandel, Einzelhandel, München 1954, S. Q 6.
  40. 1950–1960. 10 Jahre Deutsche Bobinet-Industrie Aktien-Gesellschaft in Trier (Stadtarchiv Trier).
  41. Kordt, Walter und Willi Klar: 50 Jahre Heinrich Schulte, Textilwarenfabrik GmbH Homberg/Niederrhein, Wiesbaden 1958.
  42. Vgl. Flüchtlingsfleiß in neuer Heimat, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Jg. 6, Nr. 4, 25. Januar 1951, S. 5, hier besonders auch der Anzeigenteil.
  43. Zu Lodz vgl. Nasarski, Peter (Hg.): Lodz – die Stadt der Völkerbegegnung im Wandel der Geschichte, Köln 1978 und Nasarski, Peter: Lodz „gelobtes Land“. Von deutscher Tuchmachersiedlung zur Textilmetropole im Osten. Dokumente und Erinnerungen, Berlin/Bonn 1988.
  44. Neue Textil-Zeitung, Berlin, 3. Jg., Nr. 25, 18. Juli 1948, S. 3.
  45. Z. B. die Firma Freymark, Büsch & Co., die 1948 von Dülken aus ein Zweigwerk in Wilhelmshaven aufbaute. Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Nr. 5, 1. Februar 1951, S. 7.
  46. Gefügewandlungen der deutschen Textilwirtschaft, in: Textil-Mitteilungen, Düsseldorf, 3. Jg., Nr. 9 (100), 3. März 1948, S. 2.
  47. Adolf Zappe, Ein Beispiel aus der Gardinenindustrie [Bayreuther Gardinenweberei], in: Flüchtlingsfleiß in neuer Heimat, in: Textil-Wirtschaft. Offizielles Organ des Hauptverbandes des deutschen Textileinzelhandels, Frankfurt/M., Jg. 6, Nr. 4, 25. Januar 1951, S. 6.

 

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